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327 Tote mit Namen und Gesicht

Erschossen, ertrunken, von Minen zerfetzt: Fast 30 Jahre nach dem Fall der Mauer ist jetzt das Schicksal der belegbaren Todesopfer an der innerdeutschen Grenze dokumentiert.

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© dpa

Nada Weigelt

Berlin. Der Fluchthelfer hatte noch versichert, das Schlafmittel für das sechs Monate alte Baby sei völlig unbedenklich. Doch als die DDR-Polizisten am Grenzübergang Marienborn den verrosteten roten Opel Rekord kontrollieren, ist der kleine Emanuel Holzhauer tot - im Hitzestau des Kofferraums erstickt neben seinen Eltern, für die ein westdeutscher Verwandter 25 000 Mark für die Flucht aus der DDR gezahlt hatte.

Emanuel Holzhauer ist das jüngste Opfer des DDR-Grenzregimes, dessen Schicksal Wissenschaftler der Freien Universität Berlin jetzt rekonstruiert haben. Nach fünfjährigen Recherchen legte der Forschungsverbund SED-Staat am Mittwoch erstmals belegbare Zahlen zu den Toten an der einstigen deutsch-deutschen Grenze vor.

Insgesamt 327 Menschen aus Ost und West fielen demnach der DDR-Abschottungspolitik zum Opfer, die weitaus meisten jünger als 35 Jahre (80 Prozent). „Diese Grenze war, wenn der Zynismus erlaubt ist, noch brutaler als die Berliner Mauer“, sagte Projektleiter Prof. Klaus Schroeder. „Menschen, die auf Bodenminen traten, sind zerfetzt worden, zum Teil sind sie im Unterholz nicht gesehen worden, Monate später wurden sie skelettiert als Leichen gefunden.“

Die Zahl der Mauertoten in Berlin war schon in einem Vorgängerprojekt bis 2009 erforscht worden: Mindestens 139 Menschen kamen dort bei Fluchtversuchen ums Leben. Mit der neuen Untersuchung sei jetzt die Aufarbeitung der Todesfälle an der knapp 1 400 Kilometer langen innerdeutschen Grenze abgeschlossen, hieß es.

Die Ergebnisse geben den Opfern wieder Namen und Gesicht, sagt Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU). „Das sind wir den Menschen schuldig, die für Freiheit und Selbstentfaltung ihr Leben ließen.“

Insgesamt sind die Wissenschaftler in akribischer Arbeit fast 1 500 Verdachtsfällen seit der Gründung der DDR bis zur Grenzöffnung 1989 nachgegangen. Ihr „Totenbuch“ dokumentiert erschütternd die 327 belegbaren Schicksale.

Ältestes Opfer war ein 81-jähriger Bauer aus Niedersachsen, der 1967 irrtümlich in ein Minenfeld geriet. „Landminen rissen ihm beide Beine ab. Sein Todeskampf dauerte mehr als drei Stunden“, schreiben die Forscher. „Er verblutete unter den Augen eines DDR-Regimentsarztes, der sich nicht in den verminten Grenzstreifen wagte.“

Freilich: Nicht nur Menschen, die nach Verrat, Verfolgung oder Schikane ihre Heimat verlassen wollten, wurden zu Opfern. Die Experten untersuchten auch mehr als 200 Suizide, die es in den Grenztruppen gab - mindestens 44 davon waren dienstlich bedingt. „Das war keineswegs eine homogene waffenstarrende Truppe“, sagte Co-Autor Staadt. „Es gab sehr viele junge mutige Männer in den Grenztruppen, die sich geweigert haben, die Waffe gegen Zivilpersonen zu erheben.“

Das Forschungsprojekt war von Grütters mit rund 450 000 Euro unterstützt worden. Von den 16 Bundesländern beteiligten sich nach Angaben von Projektleiter Schroeder trotz mehrfacher Bitte nur Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Hessen - mit zusammen knapp 200 000 Euro.

Weiter nicht endgültig geklärt bleiben vorerst die Todesfälle von DDR-Bürgern bei Fluchtversuchen über die Ostsee oder in andere Ostblockstaaten - hier rechnen die Experten nochmals mit 200 bis 500 Opfern. Dennoch steht nach den Worten von Staadt - auch mit Blick auf die aktuellen Debatten um Grenzen - schon jetzt fest: „Wenn Menschen Freiheit und Selbstbestimmung suchen, werden sie auch durch Mauer und Stacheldraht nicht aufgehalten.“ (dpa)

Klaus Schroeder/Jochen Staadt (Hrsg.), Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze 1949-1989. Ein biografisches Handbuch, Verlag Peter Lang Frankfurt am Main 2017, 685 Seiten, 49,90 Euro, ISBN 978-3-631-72594-8