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8,5 Kilo Geschosspulver in der Wohnung

Ein Großenhainer gräbt im Wald alte Munition aus und steht dafür nun vor Gericht.

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© Klaus-Dieter Brühl/Archiv

Von Birgit Ulbricht

Großenhain. Man muss sich das vorstellen: Da packt ein schmächtiger junger Mann in Jogginghosen und Turnschuhen seine Reisetasche und läuft zum Schrottplatz Rüdrich. Die Tasche ist schwer, denn sie ist vollgepackt mit Munitionshülsen. Beim ersten Mal hat er seinen Ausweis ablichten lassen und unterschrieben, dass das Zeug nicht geklaut ist. Dann fragt kein Mensch mehr.

Marcel Reichel zeigte vor einem Jahr die gesprengte Schießanlage bei Skäßchen. Wie die Wolfsschanze ragen die Mauern eines alten Wehrmacht-Schießstandes im Raschützwald empor. Militärhistoriker Marcel Reichel kennt ihre Geschichte.
Marcel Reichel zeigte vor einem Jahr die gesprengte Schießanlage bei Skäßchen. Wie die Wolfsschanze ragen die Mauern eines alten Wehrmacht-Schießstandes im Raschützwald empor. Militärhistoriker Marcel Reichel kennt ihre Geschichte. © Klaus-Dieter Brühl/Archiv

Denn das Ganze passiert zunächst täglich, später ein- bis zweimal die Woche. So jedenfalls schildert der 32-jährige Großenhainer am Donnerstag auf der Anklagebank des Riesaer Amtsgerichtes, was sich bis August 2015 abspielt. Die Munitionshülsen hat der Großenhainer in der ehemaligen Schießanlage der Wehrmacht in Skäßchen ausgegraben. Die wurde nach dem Krieg von den Russen gesprengt – seitdem liegen riesige Betonbrocken im Wald, die ganze Munition, die dort hineingetragen wurde zum Sprengen, hat es in der Luft zerrissen oder eben verteilt. Irgendwann ist Gras über die Sache gewachsen, aber eben nicht genug, dass Militaryfreunde und Schrottsammler nicht doch etwas finden würden. Ein LKA-Beamter bestätigt vor Gericht, man habe am 24. August 2015, verständigt durch den Waldbesitzer, bis zu drei Meter tiefe Grabungen gefunden.

Der Angeklagte errichtete dort draußen sein persönliches Wald-Camp mit Gaskocher, Stirnlampe, Solarpaneele zum Aufladen der Batterien und Wechselsachen zum Arbeiten – das Labor brauchte nur noch die DNA-Proben zu nehmen. Da hatten die Ermittler allerdings noch keinen Täter.

Der ging ihnen erst am 13. Juni 2016 in die Fänge, als in der Wohnung an der Naundorfer Straße eine Haussuchung stattfand, nachdem der Vermieter gekündigt hatte. Das Polizeiaufgebot stieg dann minütlich. Am Ende, so berichtet der LKA-Beamte, habe man alles in Kisten und Behältern herausgeschleppt und sofort dem Kampfmittelbeseitigungsdienst übergeben. Gefunden hatte der Großenhainer alles, was der Zweite Weltkrieg in der hiesigen Gegend hergab: Panzerabwehrgeschosse, Bord-Munition von Fliegern und die gefürchteten Stalinorgeln. Letztere waren ihm nach eigener Aussage zu heikel. Er ließ sie im Wald.

Überall lag Treibpulver herum

Die Anklage lautet auf Verstoß gegen das Sprengmittelgesetz. Der Fall ist schon jetzt einer der Absurdesten des Jahres und das in den ersten Februartagen. Denn der junge Mann – seit dem 13. Lebensjahr konsumiert er Marihuana, bald auch Crystal – führt ein Leben abseits seiner Mitmenschen. Er hat zwar eine Wohnung in der Naundorfer Straße, die das Amt bezahlt, bekommt aber weder Struktur in sein Leben noch in seine Wohnung. Nach der Haussuchung sagen LKA-Beamte aus, sie wussten eigentlich nicht richtig, welcher Raum wofür gedacht war. Außer natürlich der Küche, weil dort ein Herd stand, und der Toilette.

Der Beamte beschreibt das, was er vorfand, am Donnerstag als „das Haarsträubendste“, was er je gesehen hat. Überall in der Wohnung liegen und stehen Geschosshülsen, Kartuschen, aufgeschraubte Zünder, zusammengerostete Munition. Auf einem Essteller, auf dem Nachspeicherofen, neben dem Fernseher, in Regalen – überall liegen lose Häufchen von Treibladerpulver, auch bekannt als Zellulosepulver. Ein Pulver, das hochempfindlich reagiert und sich leicht entzündet, schließlich soll es das Geschoss heraustreiben. Das geschieht etwa mit einer Geschwindigkeit von 700/800 Meter pro Sekunde. Zum Vergleich: TNT (Sprengstoff) erreicht etwa 2500/3000 Meter pro Sekunde, eine Pistole 300/400 Meter pro Sekunde.

Das Treibmittel erreicht damit zwar nicht die Sprengkraft von TNT, erklärt der Experte, aber verursache eine verheerende Brandwirkung, wenn nur irgendwo der kleinste Funke fliegt. Der Angeklagte hört sich das seelenruhig an und antwortet: „Ich hatte doch keinen Strom.“

Für die Kampfmittelexperten war die Situation in der Wohnung an der Naundorfer Straße dagegen kreuzgefährlich, weil überall leere und gefüllte Geschosse herumliegen und niemand abschätzen kann, wie die Projektile im Brandfall durch die Gegend schießen. Die Mengen hätten dazu dicke ausgereicht. Allein in einer einzigen Kartusche hatte der Großenhainer fünf Kilo Treibmittel abgefüllt. Zum Vergleich: Die gefährlichen Silvesterböller, vor denen alljährlich gewarnt wird, enthalten 50 bis 100 Gramm! Insgesamt liegen in der Wohnung 8,5 Kilo Geschoss-Treibmittel lose herum. „Den Brand möchte ich mir nicht vorstellen“, sagte der LKA-Mann abschließend.

Im „Wald-Camp“ des Angeklagten finden die Sprengstoffexperten noch einmal 2,5 Kilo reinen Sprengstoff, gesammelt in Behältern. Dazu Kisten mit Schrott-Hülsen, die dem Angeklagten nicht wertvoll erschienen. Der Richter versucht zu erkunden, was sich der junge Mann, der in einem Sucht-Therapie-Programm der Diakonie arbeitet, dabei gedacht hat. „Hatten Sie keine Angst um ihre Hände oder Augen, haben Sie Vorsichtsmaßnahmen getroffen, wenn Sie die Hülsen geöffnet haben?“, fragte Richter Alexander Keller den Angeklagten. Der versteht die Frage nicht ganz.

Sein Verteidiger erklärt ihm, der Richter wolle wissen, ob er einen Helm getragen oder ein Schutzschild aufgestellt habe. Der Angeklagte schüttelt nur den Kopf. Er sei ja immer alleine gegangen, da wäre das nicht so schlimm.

Die Nachfragen des Richters, ob er nicht vielleicht doch mit der Munition handeln wollte, laufen ins Leere. Ja, er wisse, es gebe Leute, die sowas sammeln – als einer der LKA-Beamten dem Richter erzählt, auf dem Militarymarkt in Belgien gebe es zum Beispiel für eine Torpedo-Mine mit Zünder bis zu 50 000 Euro, staunt der Angeklagte. Auf die Frage, ob er wisse, was das Darknet sei, antwortet der nur, er glaube das sei etwas Illegales. Auch politische Motive kommen nicht zutage. Der junge Mann, der nach eigenem Bekunden seit einigen Monaten keine Drogen mehr nimmt, ist – so scheint es – wirklich losgezogen, um Munition auszugraben, wie andere auf Arbeit gehen.

Sein Suchttherapeut Gert Müller von der Diakonie nutzt die Gelegenheit, gegen die Freigabe von Cannabis zu argumentieren, denn mit dieser Droge hat auch bei seinem Schützling mit 13 alles angefangen. Er beschreibt, wie der Chrystal-Konsum jedes stabile Selbstbild und jeden Realitätssinn zerstört. Was nun mit dem jungen Mann wird, entscheidet sich am 28. Februar, 14 Uhr bei einem zweiten Termin. Denn der Verteidiger musste an diesem Tag noch in Zwickau zu einem hochbrisanten Prozess als Pflichtverteidiger erscheinen. Brisant deshalb, weil ihn der chrystal-abhängige Angeklagte dort zuletzt im Gerichtssaal zusammengeschlagen hatte. Trotzdem durfte er sein Mandat nicht niederlegen.