Von Julia Vollmer
Schlafen kann er nicht mehr. Er wälzt sich stundenlang hellwach im Bett und lauscht auf jedes Geräusch. „Wie ein Fuchs mit einem halben Auge offen schlafe ich seitdem“, sagt Ali Solmaz. Seitdem – damit meint er die Nacht vom 11. auf den 12. April. Um 1.30 Uhr klingelte es an seiner Tür. Als er öffnete, standen Polizisten davor. „Sie müssen heute ausreisen“, sagten sie ihm. Nebenan schlief sein siebenjähriger Sohn Bela. „Bitte wecken Sie ihn nicht“, bat der 43-Jährige die Beamten. Doch das half nicht. Vater und Sohn mussten ins Auto steigen. Ziel: Flughafen Berlin Tegel. Von dort aus sollten sie nach Spanien abgeschoben werden. Ursprünglich kamen sie aus dem Libanon, erstmals europäischen Boden betraten sie aber im August 2017 in Spanien. Seit September leben sie in Dresden, erst in der Erstaufnahmeeinrichtung an der Hamburger Straße, jetzt in einer Einraumwohnung in Leubnitz-Neuostra.
Der Junge verstand nicht, was passierte. Er trat um sich, biss und kratzte seinen Vater. Bela ist Autist. Der Junge kann seine Emotionen schwer zügeln. Das bemerkte auch eine Kirchenmitarbeiterin am Flughafen. Sie überzeugte die Beamten, dass das Kind in so einem Zustand nicht abgeschoben werden könne. So erzählt es zumindest Ismail Davul vom Ausländerrat, der den Fall betreut. Die Beamten ließen Vater und Sohn frei. „Wir standen plötzlich am Flughafen, früh um 7 Uhr.“ Ali Solmaz, der im wahren Leben anders heißt, wusste nicht, was er tun sollte. Wie kommt er jetzt zurück nach Hause? Ohne Schlüssel, den er in der Wohnung zurücklassen sollte? Mit einem aufgelösten Kind an der Hand. „Die Polizisten sagten: Sie haben doch Bargeld, nehmen Sie sich ein Taxi“, erzählt Solmaz. Das tat er, 350 Euro zeigte das Taxameter am Ziel. In seine Wohnung kam er nur mit dem Ersatzschlüssel, den er beim Ausländerrat hinterlegt hatte.
Vater und Sohn mussten das Geschehene erst einmal verarbeiten, erst jetzt können sie darüber sprechen. Wieder angekommen in Dresden quält die Familie die Frage: Wie geht es weiter? Sie möchten in Deutschland bleiben. Doch nach Dublin-Richtlinien müssen sie den Asylantrag dort stellen, wo sie europäischen Boden betreten haben. In Spanien. Dort wollen sie aber nicht bleiben, sondern in Dresden. Warum nicht im Libanon, wo die Ehefrau und die elfjährige Tochter leben? „Im Libanon wird mein Sohn aufgrund seiner Krankheit wie ein Aussätziger behandelt.“ Frau und Tochter sollen so bald wie möglich nachkommen. Von den 290 Personen, die 2018 bisher aus Sachsen abgeschoben wurden, stammen zwei aus dem Libanon.
Die Beschreibung der Nacht von Ali Solmaz bestätigt auch die Landesdirektion Sachsen als zuständige Behörde. „Es handelt sich um eine geplante Überstellung gemäß Dublin-III-Verfahren nach Spanien“, so Sprecher Gunter Gerick. Er bestätigt den Abbruch der Abschiebung. Doch von einer Kirchenmitarbeiterin ist keine Rede. Stattdessen habe die Bundespolizei am Flughafen die Übernahme von Vater und Kind verweigert. Sie hätten das Kind als nicht reisefähig eingestuft, so der Sprecher. Wer letztlich intervenierte, bleibt offen. Vorher habe es keinen Grund gegeben, an der Reisefähigkeit des Jungen zu zweifeln.
Der Vater, der im Libanon als Autor bei verschiedenen Zeitungen gearbeitet hat, erzählt, dass sein Sohn in Dresden von Beginn an in ärztlicher Behandlung ist. Auch der Ausländerat weist auf den schlechten Gesundheitszustand hin. Davul spricht von einem „multiplen Krankheitsbild mit Intelligenzminderung, Autismus und chronischen HNO-Krankheiten“. Die Diagnose Autismus kam von der Charité in Berlin und von einer psychotherapeutischen Praxis aus Dresden. „Der Kleine ist kaum in der Lage zu kommunizieren, reagiert zunehmend aggressiv und braucht permanente Betreuung“, so Davul. Sein Vater, der den Jungen alleine in Dresden erzieht, sagt: „Er braucht klare Strukturen, Rituale und Rückzugsmöglichkeiten.“ Sein Sohn sollte keinen starken Reizen ausgesetzt werden, da diese ihn unter Stress setzen und sein aggressives Verhalten befördern.
Auch der nächtliche Abschiebeversuch hat den Jungen gestresst. Gegen so ein Vorgehen der Behörden wendet sich jetzt ein Antrag der rot-grün-roten Stadtratsmehrheit. Dazu gibt es in der kommenden Jugendhilfeausschuss-Sitzung eine Anhörung. „Abschiebungen von Kindern in den Nachtstunden sind Kindeswohlgefährdung“, heißt es im Antrag. Kindeswohlgefährdung sehen bei dem Fall auch Ausländer- und Flüchtlingsrat. Die Landesdirektion verteidigt den Abschiebeversuch mit den Flugzeiten. „Der Abflug war 7.15 Uhr, daher musste die Abholung in den Nachtstunden erfolgen“, so Gerick.
Jetzt prüfen die Familie und der Ausländerrat mögliche Wege. In den kommenden Wochen soll es einen Termin mit den Behörden geben, um zu beraten.