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Alle mal herhören!

Wie eine Mutter um grenzenlose Bildung für ihren gehörlosen Sohn kämpft.

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© René Meinig

Von Henry Berndt

Spielzeit auf dem Wohnzimmerteppich. Bei Uno sind alle dabei. Ganz unauffällig bewegt sich Willis Kopf über Papas Schulter. „Eh, du guckst mir in die Karten“, ruft der und Willi lacht so frech, wie ein sechsjähriger Junge eben lacht. Munter guckt er weiter links und rechts, bis Mama die Mahnung wiederholt. Diesmal in Gebärdensprache. Jetzt hält Willi sich dran. Am Ende gewinnt er trotzdem, ganz ohne Schmu. Uno Uno.

Ein strenges Wort hier, eine nachdrückliche Gebärde da. Erziehung ist im Hause Stenzel eine besondere Herausforderung. Willi wurde gehörlos geboren – als eins von etwa 1000 Kindern in Deutschland. Seine Eltern wollten das anfangs nicht glauben, doch als auch 120 Dezibel beim Test keine Reaktion brachten, hatten sie zumindest Klarheit. Das entspricht immerhin dem Lärmpegel eines startenden Flugzeugs.

Im Alter von einem Jahr wurde Willi ein sogenanntes Cochlea-Implantat in den Kopf gesetzt. Das ermöglicht es, mithilfe von elektrischen Impulsen, den Hörnerv zu stimulieren, damit Willi Geräusche wahrnehmen kann. Für die Ärzte war er damit „repariert“ – und die Eltern glaubten daran. „Für mich war dieses Versprechen auch eine Stütze“, sagt Vater Roberto. „Bis dahin hatte ich mich gefragt, ob ich jemals mit ihm würde kommunizieren können.“

Magdalena Stenzel kann sich noch gut an den Moment erinnern, als ihr Sohn zum ersten Mal hörte. „Als eine Therapeutin auf eine Trommel schlug, schaute er gleich interessiert und hat mich verschmitzt angelächelt.“ In diesem Moment öffnete sich für Willi das Tor zu einer neuen Welt. Einer Welt, die andere Kinder schon im Mutterleib als selbstverständlich wahrnehmen. Willi dagegen musste nun jedes Geräusch einzeln lernen. Seine Mutter blieb ein zweites Jahr zu Hause und begleitete seinen Alltag. „Einmal hat er am Tisch geniest und sich suchend umgeschaut“, erinnert sie sich. „Das warst du“, habe sie ihm erklärt.

Ein unerfülltes Versprechen

Die Euphorie war groß, doch schon bald zeigte sich, dass ein Implantat aus einem behinderten Menschen keinen nicht behinderten Menschen machen kann. Während normal Hörende Stimmen und Töne filtern und zuordnen können, kommt in Willis Kopf ein Brei an Geräuschen an, der ihn schnell überfordert. Hören ist das eine, Verstehen etwas ganz anderes. Dazu kamen die alltäglichen Probleme mit der Technik. Der außen an den Ohren getragene Sprachprozessor mit den Mikrofonen löste sich beim Spielen oder haftete plötzlich an der Heizung. Und schon war das Kind wieder taub – genauso wie nachts, im Wasser und bei leeren Batterien. Sieht so eine „reparierte“ Behinderung aus? „Das Versprechen der Ärzte wurde einfach nicht eingelöst“, sagt Roberto Stenzel.

Gebärden lernte Willi in seinen ersten Lebensmonaten nicht kennen. Die vorherrschende Meinung der Fachleute war: Bei einem Kind, das sprechen und nach einer Operation auch hören kann, sollte grundsätzlich auf Gebärdensprache verzichtet werden. Es könne sich sonst nicht auf den Spracherwerb konzentrieren – und womöglich sprechfaul werden. Anfangs hielten sich Willis Eltern an diesen Rat, doch immer stärker wurde ihr Gefühl, dass Gebärden ihrem Kind doch helfen könnten, ja mehr doch, für seine Entwicklung unersetzlich sind. Sie belasen sich zu neusten Studien und entschieden: Unser Kind wird das jetzt lernen.

Willis erste Gebärde war „Licht“ – das Öffnen und Schließen der Hand auf Kopfhöhe. Mit anderthalb Jahren beherrschte er 50 Zeichen und konnte viel mehr verstehen. „In seinen ersten Lebensmonaten haben wir viel Zeit verloren“, sagt Magdalena Stenzel. Den Rückstand aufzuholen, kostete Zeit und Kraft.

Eines schönen Tages machte Willi die Gebärde für Ball – und sprach das Wort dazu aus. Ein magischer Moment! Wer ihn heute sprechen hört, würde nicht darauf kommen, dass er gehörlos ist. „Bei Gebärdensprache kenne ich mich aus“, sagt er forsch und strahlt. In seiner Familie werden inzwischen zwei völlig eigenständige Sprachen mit eigener Grammatik gesprochen. Willi versteht am besten in Gebärdensprache – spricht aber lieber laut.

Der Weg bis hierhin war weit. Vor Gericht mussten die Eltern sich anfangs monatelang Gebärdensprachunterricht und einen Dolmetscher für den Kindergarten erstreiten. „Am Anfang saß Willi dort im Morgenkreis und hat sich zu Tode gelangweilt“, sagt seine Mutter, „weil er einfach nichts verstanden hat.“ Erst mit einer Assistentin an seiner Seite blühte er auf. Die Eltern selbst brachten sich die Gebärdensprache zunächst mithilfe von Büchern bei, bis ihnen das Jugendamt einen Kurs bewilligte. Ohne permanenten Druck an allen Fronten hätten die Ämter auf ihrem Standpunkt beharrt: Dieses Kind kann doch reden und hören. Wo ist das Problem?

Letzter Ausweg Petition

Im August soll Willi in die Schule kommen, doch bis jetzt ist völlig unklar, wie er dort ohne Dolmetscher lernen soll. Die Ämter fordern von der Familie einen Beweis, dass er nicht gut genug hören kann, um dem normalen Unterricht zu folgen. Bei einem Test vor wenigen Wochen sollte er die Worte „Drei große Löffel“ wiederholen, die ihm laut und deutlich gesagt wurden. Willi verstand: „Drei rote Löffel“. Wie soll er künftig einen Lehrer im Unterricht verstehen, der über Blumen, Bienen und Rechenaufgaben spricht, während alles um ihn herum murmelt und mit Bonbonpapier knistert?

Für Willis Eltern ist die Lage klar: Ihr Sohn braucht einen Gebärdensprachdolmetscher, der neben der Lehrerin steht. „Wir wollen nicht mehr als die Sonderlinge angesehen werden, die was ganz Verrücktes wollen“, sagt sie. „Da gibt es eine Sprache, die unser Kind mühelos wahrnehmen kann und durch die es ganz normal mitlernen kann.“ Rechtlich sei die Sache klar. Mit der UN-Behindertenrechtskonvention von 2009 hätten gehörlose Kinder und Erwachsene in Deutschland ein Recht auf den Erwerb der Gebärdensprache.

Da Sachsen nun sowieso endlich an einem Inklusionsgesetz arbeite, geht Magdalena Stenzel in die Offensive. Sie hat eine Petition gestartet mit dem Titel: „Gebärdensprache umsetzen! Bilingual – bimodal – endlich normal!“ Ihre Familie hätte einfach kein Geld und keine Kraft mehr zum Klagen, empfinde das als unwürdig und wolle anderen diese Mühen ersparen. „Es gibt einen dramatischen Mangel an barrierefreien Bildungsangeboten für gehörlose Kinder“, sagt die Mutter. „Und das muss sich ändern.“ Fast 5 900 Unterschriften sammelte sie bereits. Bald möchte sie 10 000 persönlich an Politiker des Landtages überreichen. Die Petition richte sich aber auch an den Bundestag. „Mein Wunsch ist, dass Gebärdensprache selbstverständlich wird – im Alltag, in der Bildung und in der Kultur“, sagt sie. „Wir werden nicht aufhören, dafür zu kämpfen.“

Zur Petition: weiter