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Alles hat seine Zeit

Walter Lange gründete 1990 die Uhrenmanufaktur seiner Familie neu. Heute gehört A. Lange & Söhne zu den Top-Luxusunternehmen. Der Glashütter starb am Dienstag im Alter von 92. Ein Nachruf.

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© Robert Michael

Von Peter Ufer

Manchmal ging Walter Lange dorthin, wo alles zusammenkommt. Er sah dann in der Montageabteilung einem der Uhrmacher über die Schultern, betrachtete zum Beispiel, wie Schnecke und Federhaus mit einer Antriebskette Verbindung aufnahmen. Er sagte nichts, nickte wohlwollend, lächelte. Dann ging er wieder.

Der Neubeginn: Walter Lange fachsimpelt mit Mitarbeiterin Renate Clauß.
Der Neubeginn: Walter Lange fachsimpelt mit Mitarbeiterin Renate Clauß. © Egbert Kamprath
Die Lehrzeit: Walter Lange während seiner Uhrmacherlehre nach dem Krieg.
Die Lehrzeit: Walter Lange während seiner Uhrmacherlehre nach dem Krieg. © Lange Uhren

Am Dienstag ist er für immer gegangen. Er starb in einer Rehaklinik in Ingolstadt. Vor vier Wochen war der 92-Jährige gestürzt und erholte sich nicht mehr davon. Lange wurde am 29. Juli 1924 in Dresden geboren. Im August 2015 wartete er in Glashütte geduldig auf seine Besucher. Der Glashütter stand in der neuen Uhrmacherei von A. Lange & Söhne neben dem Gästebuch und forderte jeden auf, sich einzutragen. Angela Merkel schrieb ihr Autogramm auf das weiße Büttenpapier. Innerhalb von drei Jahren entstand der sechste Produktionsstandort des Unternehmens in Glashütte.„1990 hatten wir nichts weiter als einen Briefkasten“, sagte Lange zur Bundeskanzlerin. Heute arbeiten in Glashütte insgesamt 650 und weltweit 770 Mitarbeiter.

Bei Begegnungen erzählte Walter Lange immer wieder gern, wie er schon als Kind mit seinem Vater durch die Uhrenmanufaktur in Glashütte lief, wie er aus Ersatzteilen kleine Chronometer bastelte, wie er Weihnachten einen Bausatz für eine Wanduhr geschenkt bekam und fasziniert war. Er berichtete gern von seinem Leben, den freiwilligen Entscheidungen und den unfreiwilligen Zwängen, dem Verlust der Heimat und der unverhofften Rückkehr.

Nach der Volksschule ging er 1941 mit 16 Jahren weg aus Glashütte nach Karlstein in Österreich – das erste Mal. Freiwillig. Er wollte sich zum Uhrmacher ausbilden lassen, aber schon nach einem Jahr bekam er den Einberufungsbefehl. Bevor er in den Krieg zog, fuhr er nach Hause, nach Glashütte. Er traf seine Schulfreundin Irma, ihre Freundschaft sollte die Zeiten überdauern. Er ging noch einmal in die Semperoper. Die Uhr über der Bühne hatte 1841 der Dresdner Uhrmachermeister Friedrich Gutkaes geschaffen – der Lehrmeister seines Urgroßvaters Ferdinand Adolph Lange, der am 7. Dezember 1845 den Grundstein für die sächsische Feinuhrmacherei legte.

1942 verließ Walter Lange das zweite Mal Glashütte. Unfreiwillig. Der 18-Jährige rollte in einem Güterwagen an die Ostfront. In Russland wurde er verletzt und kehrte zurück in die Heimat, am 7. Mai 1945. Walter Lange sagte dazu einmal in einem Gespräch: „Das Schicksal hat mich für meine Heimat aufgehoben.“ Doch das Glück der Rückkehr fiel sofort wieder in sich zusammen. Am 8. Mai 1945 traf eine Bombe die Uhrenfabrik seiner Eltern. Walter Lange erklärte seinem Vater, er sollte jetzt nicht mehr nur Taschenuhren bauen, sie müssten anfangen, Armbanduhren herzustellen. Schon im Krieg hatte das Glashütter Unternehmen eine Beobachtungsfliegeruhr für die Wehrmacht produziert, einen Marinechronometer. Auch Präzisionsuhren mit dem eingravierten Hoheitsadler auf dem Boden kamen aus dem Werk. Mit seinem Vater begann der Sohn das Familienunternehmen wieder aufzubauen. Doch nach drei Jahren war Schluss.

Am 20. April 1948 wurde das Privatunternehmen enteignet. Lange sah mit an, wie sie den Vater aus dem Büro warfen. „So war die Zeit“, sagte er später nüchtern. Aber er vergaß nie die Namen jener, die damals das Familienunternehmen beschlagnahmten. Er nannte sie „die deutschen Russen“. Lange durfte bleiben. Weil er nicht in die Gewerkschaft eintreten wollte, schickten die Funktionäre ihn in den Uranbergbau. Walter Lange floh noch in derselben Nacht, am 15. November 1948. Wieder ging er weg aus Glashütte. Nicht freiwillig. Damals, so erzählte er allen, die es hören wollten, damals schwor er: „Solange dieses System herrscht, komme ich nicht wieder.“ Als er weg war, bauten die Uhrmacher im volkseigenen Werk eine Armbanduhr, auf deren Zifferblatt „VEB Lange“ stand. Ein Sammlerstück, das es nur noch selten gibt. Am 1. Juli 1951 ging die Firma ganz unter, ging in den VEB Glashütter Uhrenbetriebe ein.

Walter Lange beschreibt in seinen Lebenserinnerungen, dass es ihn nach Pforzheim verschlagen hatte. Er stellte dort mit seinem gleichfalls geflüchteten Bruder Uhren her. „Wir kauften Kartons mit Teilen für jeweils hundert Uhren, die wir dann am Küchentisch montierten.“ Diese Uhren kamen unter dem Namen „A. Lange Pforzheim“ in den Handel. Im schweizerischen Biel ließen sie später Uhren fertigen, die als „Lange vorm. Glashütte“ verkauft wurden. Aber für eine richtige Produktion fehlten die Fachleute. Die meisten von ihnen lebten nach wie vor in Sachsen. In Pforzheim arbeite Lange derweil als Außendienstmitarbeiter für die Schmuckwarenindustrie.

Seinen Schwur, unter sozialistischer Herrschaft nicht in die Heimat zu fahren, den brach er dann aber doch. „Nachdem Sowjetzonen-Flüchtlinge wieder in die DDR einreisen durften, wagte ich mich 1976 erstmals wieder nach Glashütte,“ berichtete er. Seitdem fuhr Walter Lange jedes Jahr ins Müglitztal, besuchte in Heidenau und Dresden Verwandte, hielt Kontakt, auch zu Irma, seiner Schulfreundin.

Die Haushälterin seines verstorbenen Onkels riet ihm bei einem Besuch, dessen Archiv in Sicherheit zu bringen. Darin fand er unter anderem das Skizzenbuch des Urgroßvaters mit Uhrwerks- und Detailzeichnungen sowie mathematischen Berechnungen für Räder und Triebe. Er versteckte den Schatz unter dem Autositz, die Grenzsoldaten fanden die Unterlagen nicht.

Als 1989 die Wende kam, stoppte Walter Lange abrupt sein Seniorentraining in Pforzheim und fuhr nach Glashütte. Freiwillig. Er hoffte, das Unternehmen zurückzubekommen – vergebens. Er erzählte von der zweiten Enteignung, die er als große Demütigung empfand. Wer nach Kriegsende bis zur Gründung der DDR 1949 enteignet worden war, bekam nichts zurück, so schrieb es das Entschädigungsgesetz vor.

Doch Manager von Uhrenherstellern in der Bundesrepublik und der Schweiz erinnerten sich sehr wohl an Glashütte und dessen Uhrentradition. Einer von ihnen war Günter Blümlein, damals Chef der Gruppe Les Manufactures Horlogeres (LMH). Unter dem Dach der LMH waren die exklusiven Uhrenhersteller IWC und Jaeger-LeCoultre vereint. Die kannten das Potenzial von A. Lange & Söhne, sie brauchten nur den Zugang zu Glashütte und den Namen. Den hatte Walter Lange.

Es begann eine neue Zeitrechnung. Dazu brauchte der Urenkel den Briefkasten seiner alten Schulfreundin Irma, denn er hatte keine Adresse mehr in seiner Heimat. Ernst-Thälmann-Straße 7, Glashütte – das war 1990 die erste Adresse von A. Lange & Söhne, eine Briefkastenfirma für Luxusuhren sozusagen. Am 7. Dezember 1990 – auf den Tag genau 145 Jahre nach der Gründung der Firma durch seinen Urgroßvater – belebte er das Familienerbe wieder. Später kaufte er das Stammhaus der Familie zurück und der Aufstieg der Traditionsmarke begann. 1994 fand sich die Digitalanzeige aus der Semperoper in der neuen Armbanduhr von A. Lange & Söhne wieder. Die „Lange 1“ zeigte das Datum in römischen Ziffern an. Als Walter Lange die Uhr vorstellte, lud er auch Irma mit ihrem Mann zur Präsentation in das Dresdner Schloss ein. Seit 2001 gehört das Unternehmen zum Luxuskonzern Richemont mit Sitz im Kanton Genf. Lange repräsentierte in den letzten Jahren das Unternehmen, beiGrundsteinlegungen zum Beispiel. Walter Langes Frau ist tot, ebenso Ex-LMH-Chef Blümlein. Auch Irma lebt nicht mehr. Jetzt ist Walter Lange für immer gegangen. „Alles hat seine Zeit“, würde er sagen.