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Als Christian Lietzmann Bestzeiten schwamm und den Flugverkehr störte

Der erfolgreiche DDR-Lagenschwimmer aus Görlitz hatte beim Wettbewerb meist eine kleine weiße Maus dabei. Und er pflegte noch weitere Marotten.

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© Hartmut Reiche

Von Ralph Schermann

Görlitz. Er machte, was er wollte. Matthias Lietzmann sagt das über seinen Bruder. Und er sagt es mit Stolz. Wir Lietzmanns waren nie angepasst, will er damit ausdrücken, machten mit Vorliebe das, was der Obrigkeit missfiel. Nicht nur in der DDR.

Ende der 1990er Jahre hatte der ehemalige Schwimmstar kräftig zugelegt. Bis zu seinem Tod betrieb er einen Kiosk mit Biergarten.
Ende der 1990er Jahre hatte der ehemalige Schwimmstar kräftig zugelegt. Bis zu seinem Tod betrieb er einen Kiosk mit Biergarten. © privat
Matthias Lietzmann, Bruder des Schwimmtalents Christian
Matthias Lietzmann, Bruder des Schwimmtalents Christian © SZ

Gemeinsam mit Schwimm-Star Roger Pyttel kletterte Christian Lietzmann 1974 in Paris auf die erste Plattform des Eiffelturms. Von außen. Weil der Wachschutz eingriff und Sicherheitsbeamte viele Fragen stellten, musste ein Flugzeug sechs Stunden warten. Lietzmann war damals mit einer Schwimmauswahl zum Länderkampf in Frankreich, und in Berlin-Schönefeld sorgten sich die Angehörigen ob der Verspätung. Nicht unberechtigt, denn damals nahmen Flugzeugentführungen zu, waren auch Athleten seit Olympia 1972 nicht mehr sicher. Da hatten in München bewaffnete Mitglieder einer Terrororganisation das Quartier der israelischen Mannschaft gestürmt und Geiseln genommen. Zwei durch Schüsse schwer verletzte Israelis starben. „Christian hat darüber erzählt, die DDR-Athleten waren gegenüber dem Attentatsgebäude untergebracht“, weiß Bruder Matthias noch. Und nicht nur er. „Er hat uns hinter vorgehaltener Hand von den Spielen erzählt, aus den Trainingslagern, aus den USA, und wir waren stolz auf ihn“, erzählt Helmut Goltz, der mit seinem Schulfreund vier Jahre lang am Klosterplatz die 14. Oberschule besuchte.

Wie konnte ein junger DDR-Bürger derart in der Welt herumkommen? „Nur durch Leistung“, betont Matthias Lietzmann. Sportlich gesehen schaut er ein wenig neidisch auf den zehn Jahre älteren Bruder Stephan, der es im Freistil-Ringen bis zur Junioren-EM brachte. Und auf den fünf Jahre älteren Christian, der auf Umwegen zum Wasser kam. Geboren am 2. Oktober 1955 in der Drogistenfamilie Lietzmann, älteren Görlitzern noch als Stern-Drogerie, Bahnhofstraße 50, bekannt, besuchte er alle möglichen Arbeitsgemeinschaften, spielte Fußball und war sogar in einer 1965 aus Görlitz übertragenen Fernsehsendung zu erleben – als Mitglied des Schulchores. Damals ahnten die Fernsehleute eben noch nicht, dass da eher ein Sporttalent heranreift. Schwimmtrainer Erwin Pohl von Post Görlitz knüpfte Kontakte, dank der Christian Lietzmann ab der 5. Klasse nicht mehr im Freisebad Runden drehte, sondern zum SC Einheit Dresden kam und das Leistungszentrum Schwimmen besuchte. Nach mehreren Tests stand fest, ihn auf 200 und 400 Meter Lagen einzusetzen, wo es der 1,99 Meter große Görlitzer tatsächlich zu internationalen Erfolgen brachte. Die aber wollten verdient sein. „Hartes Training, fast schon Drill, aber so ist das im Leistungssport“, erzählt Bruder Matthias, berichtet auch über Höhentraining in den Karpaten und eine Gegen-Wellen-Anlage in Leipzig. Kam Christian nach Hause, brachte er oft Prominenz mit. „Meine Eltern führten ein offenes Haus, vor allem Vater verstand sich prächtig mit Gästen wie Roland Matthes.“ Vater Lietzmann hatte einst Motor Wama Görlitz mit aufgebaut, spielte Fußball bei Pentacon – und begrüßte den Gasableser stets besonders herzlich. Denn der war der Vater von Dixie Dörner. Matthias fälschte einen Internatsausweis, um seinen Bruder in Dresden besuchen zu können. „Das Internat lag am Stadion, und wenn ich dort mit meinem Bruder dribbelte, waren Leute dabei, die ich bisher nur vom Fernsehen kannte.“

Uwe Neumann, der Auswahltrainer im Schwimmen, führte Christian Lietzmann zu Siegen in DDR-Meisterschaften und setzte ihn ab Anfang der 70er Jahre international ein. Das begann mit einem Länderwettkampf in Holland, und Schwimmvergleiche folgten in Frankreich, den USA und vielen osteuropäischen Städten. Zur Olympiade in München 1972, den ersten Spielen mit eigener DDR-Mannschaft, durfte Lietzmann dabei sein und kam auf den 16. Platz. Wo man hinkonnte, fuhren die Verwandten mit, wo nicht, holten sie Christian am Flugplatz ab. Aus Görlitz waren die erfolgreichen Schwimmerinnen Gudrun Wegner und Ulrike Richter dabei, auch eine Tochter des Fleischermeisters Renger war im Leistungszentrum Dresden – all diese Eltern kannten sich und wechselten sich mit Fahrgemeinschaften ab. Für Christian Lietzmann wurden 1974 die Welt- und Europameisterschaften in Belgrad und Wien zum Höhepunkt. Als zweifacher Vize-Europameister ging er in die Geschichte des Schwimmsportes ein. „Jahr für Jahr bekam er zur Erinnerung daran noch eine Urkunde geschickt“, erzählt Bruder Matthias.

Anderes besorgte sich der Schwimmer auf seine Art. In den USA bat er um das Ärmelabzeichen eines Polizisten. Der verlangte im Gegenzug Lietzmanns DDR-Emblem. Er riss es sich ab. In Wien tauschte er mit einem USA-Schwimmer die Badehose. Direkt vor dem Wettbewerb. Das Fernsehen übertrug weltweit, wie ein DDR-Schwimmer mit Stars-and-stripes-Hose startete. „Es war nicht das erste Mal, dass er daraufhin Besuch von Staatssicherheits-Leuten bekam“, erinnert sich Matthias Lietzmann. Und von Sportfunktionären aller Art sowieso. Denn der DDR-Starter hatte noch mehr Macken. Kaum zu glauben, aber wahr: Selbst in den Jahren seiner internationalen Erfolge rauchte der Schwimmer wie ein Schlot, 20 bis 40 Zigaretten täglich, und war auch gutem Essen nicht abgeneigt. Und er pflegte eine Marotte: Er hatte meist eine kleine weiße Maus dabei, die er vor dem Wettbewerb auf einem Startblock absetzte. Er fiel früh in Ungnade, war aber geduldet, weil er dem Land Erfolge lieferte. So gibt es auch „nur“ von den Damen Richter und Wegner Plastiken als Erinnerung an die Einweihung der Görlitzer Volksschwimmhalle, obwohl auch Christian Lietzmann mit dabei war. 1976 brach er sich bei einem Unfall mehrfach einen Arm und beschloss seine sportliche Laufbahn.

Wieder in Görlitz, beendete er die Lehre als Elektronikfacharbeiter. Das Kondensatorenwerk auf der Uferstraße fand für ihn eine Stelle als Verantwortlicher für das Neuererwesen – und einen Platz in einer Wasserballmannschaft. Seine erste Ehe, geschlossen 1977 mit der Schwimmerin Andrea Hübner, hielt nur kurz und überstand nicht die Zeit der Armee, zu der Christian Lietzmann 1978 einberufen wurde. Er diente in Oschatz in einer Nachrichtentruppe, lernte dort im Ausgang seine zweite Ehefrau kennen, zog zu ihr nach Werdau und arbeitete bei der Wismut unter Tage. Seinen im Mai 1980 geborenen Sohn nannte er ebenfalls Christian. Als die Wismut aufgab, errichtete er auf dem eigenen Grundstück einen Kiosk mit Biergarten. Und 2006, als er im September starb, wog er an die 150 Kilogramm. Das Herz machte nicht mehr mit, es war zu groß geworden und selbst durch abtrainieren nicht mehr auf Dauer zu normalisieren. Sicher, überlegt Matthias Lietzmann, „es gab auch Medikamente und Spritzen in seiner aktiven Zeit, Doping wie wohl überall auf der Welt. Ich denke aber eher, bei meinem Bruder kam einfach mehreres zusammen, als das Herz viel zu früh nicht mehr wollte.“

Geblieben sind die Erinnerungen. Matthias Lietzmann hütet besonders einige Geldstücke. „Ich hatte ihn gebeten, mir von jeder Reise ein paar kleine Münzen mitzubringen. Das hat er gemacht.“