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Als die Züge vorbeifuhren

Vor 150 Jahren wurde eine Bahnlinie durch Meißen gebaut – allerdings ohne eine Haltemöglichkeit in der Stadt.

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Enorme Eingriffe in die Natur – diese Aufnahme vom Oktober 1868 zeigt einen Bauzug an der Obergasse.
Enorme Eingriffe in die Natur – diese Aufnahme vom Oktober 1868 zeigt einen Bauzug an der Obergasse. © Stadtmuseum Meißen

Meißen. Am 21. Dezember 1868 erreichte die Eisenbahn Meißen. Warum jedoch die Züge erst Jahre später auch in der Stadt hielten, erklärt Steffen Förster, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Stadtmuseum.

Herr Förster, können Sie kurz beschreiben, wie die neue Bahnlinie Borsdorf – Coswig verlief und ja auch noch heute verläuft?

Die Linie – amtlich BC genannt – zweigt von der ersten deutschen Fernbahn Leipzig – Dresden in Borsdorf, kurz hinter Leipzig, ab. Sie tangiert Grimma, Leisnig, Döbeln Nossen und wird in Cölln bei Meißen bzw. Coswig wieder an die Fernbahn angeschlossen. Das 150. Jubiläum bezieht sich auf das Teilstück Cölln – Döbeln, das 1868 in Betrieb gegangen ist.

Wenn Sie sagen, dass es seit 1860 einen Bahnhof in Cölln gab, was war dann mit Meißen selbst?

Das ist ja das Kuriose. Der damalige Bürgermeister Rudolf Hirschberg hatte sich wahnsinnig ins Zeug gelegt, dass die Bahnlinie von Döbeln aus nicht über Wilsdruff, sondern über Meißen nach Dresden geführt wird. Aber am Ende hielten die Züge nicht in Meißen. Die bedeutendste Stadt an der neu errichteten Eisenbahnstrecke bekam keinen Bahnhof, noch nicht einmal einen Haltepunkt!

Das klingt nach einem schweren Schildbürgerstreich. Wie kam es dazu?

Das konnte ich bislang noch nicht herausfinden. Ob es böser Wille war, oder einfach nur Geschäftssinn – ich weiß es nicht. Das Bahnbau-Konsortium hat sich immer damit rausgeredet, dass es ja in Cölln einen Bahnhof gibt, der „Station Meißen“ heißt. Allerdings war Cölln bis zum 1. Januar 1901 eine selbstständige Landgemeinde. Das Konsortium hat sich einfach die Kosten gespart, ein Bahnhofsgelände zu bauen.

Der Bahnhof Station Meißen in Cölln, um 1870 vom Ratseinberg aus gesehen.
Der Bahnhof Station Meißen in Cölln, um 1870 vom Ratseinberg aus gesehen. © Stadtmuseum Meißen

War das nicht auch insofern widersinnig, als sich auf der linkselbischen Seite das Gros der Industriebetriebe befand?

Ja, Meißen war mit dem Hafen an die Elbeschifffahrt angebunden und wäre Schnittstelle zwischen Eisenbahn und Schifffahrt gewesen. Außerdem befand sich die Poststation in Meißen und nicht in Cölln. Wer Güter oder Waren aus Meißen zur Eisenbahn bringen wollte, ob Teicherts Ofenfabrik oder die Eisengießerei Jacobi, musste sie auf Pferdefuhrwerke laden, über die Brücke zum Bahnhof fahren und wieder abladen. Das bedeutete verteuerte Frachtkosten, auch, weil ja teilweise noch Brückenzoll bezahlt werden musste.

Und wann kam dann der linkselbische Bahnhof in Meißen?

Es hat noch einmal geschlagene elf Jahre gebraucht, um den Haltepunkt – erst einmal auch nur als Bedarfshalt – schließlich 1879 im Triebischtal einzurichten. Dabei gab es ein vom Rat der Stadt vorbereitetes und angebotenes Areal, das als Bahnhofsgelände vorgesehen war. Das Triebischtal wurde im 19. Jahrhundert ja das neue Wohn- und Industriegebiet Meißens – quasi eine neue, planmäßig angelegte Stadt. Seit 1834 gab es die Eisengießerei und seit 1875 die Jutespinnerei. Die wollten für ihre Rohstofflieferungen und den Abtransport der Produkte ans effektivste Verkehrsmittel – die Eisenbahn – angebunden sein.

Welche Bedeutung hatte die Eisenbahn für Meißen um 1860?

Die Eisenbahn war damals mit Abstand das schnellste und energiesparendste Verkehrsmittel und dazu eines mit enormer Kapazität. Das ist es ja objektiv bis heute auch noch geblieben. Ein echter Konkurrent für die Bahn war damals die Elbeschifffahrt.

Gibt es Informationen darüber, wie die Meißner den Eisenbahnbau aufgenommen haben?

Dass man Felsen einschnitt, um die Bahnlinie hindurch zu führen – das waren Eingriffe in die Natur von bis dahin nicht gekannter Dimension. Vergleichbar waren sie nur mit der Regulierung der Elbe seit dem Wiener Kongress 1815, als die Krümmungen des Flusses begradigt und die meisten Inseln beseitigt wurden. Was das Verhältnis der Meißner zur Eisenbahn betrifft, so kann man nur vermuten, dass sich Ablehnung und Bejahung die Waage hielten. Letztlich ging es darum, den Personen- und Warenverkehr zu beschleunigen und viel kostengünstiger zu machen.

Gibt es zeitgenössische Aussagen zur Eröffnung der Bahnlinie?

Ja. Als am 21. Dezember der aus Coswig kommende, von der Lokomotive „Coblenz“ gezogene, festlich geschmückte Eröffnungszug einrollte, wurde er trotz der Tatsache, dass er auf Jahre hinaus nicht in Meißen halten würde, von kräftigen Böllerschüssen beider Elbseiten begrüßt. Die Meißner sahen ihre Stadt erstmalig mit dem Weltverkehr verbunden.

Gespräch: Udo Lemke

Die 1866 bis 1868 erbaute Eisenbahnbrücke war eine der wichtigsten Anlagen der neuen Bahnstrecke. 
Die 1866 bis 1868 erbaute Eisenbahnbrücke war eine der wichtigsten Anlagen der neuen Bahnstrecke.  © Stadtarchiv Meißen