Jörg Schurig
Weißwasser. Zu DDR-Zeiten stand die Stadt Weißwasser ganz im Osten Ostdeutschlands für Glas, Kohle und die kleinste Eishockey-Liga der Welt. Die Glasindustrie ist bis auf Reste zusammengeschmolzen. Die Braunkohle wird mit jedem Baggerhub weniger. Nur die Begeisterung für Eishockey und andere Sportarten blieb. Während sich Dynamo Weißwasser vor der Wende allein mit Dynamo Berlin duellieren durfte, können sich die Lausitzer Füchse heute in der zweiten Eishockey-Liga mit Teams wie den Löwen aus Frankfurt und den Wölfen aus Freiburg messen.
Wer sich Weißwasser im Auto nähert, sieht schon von weitem das, was der Region bis heute Arbeit gibt. Das Kraftwerk Boxberg steht wie ein riesiger Monolith in der Landschaft. Bei bestimmten Wetterlagen wirken die weißen Kraftwerksblöcke zum Greifen nah. Doch selbst auf leeren Straßen braucht man von der Autobahn 4 (Dresden-Görlitz) noch fast eine Stunde bis ans Ziel. Die Fahrt über Dörfer und durch Wälder offenbart das Dilemma der Kleinstadt. Ihr fehlt eine gute Anbindung. Wer nach Weißwasser kommen will, braucht vor allem eines: Zeit.
Da, wo die Wölfe heulen
Man kann auch sagen: Weißwasser liegt da, wo die Wölfe heulen. Tatsächlich gibt es in der Nähe Wolfsrudel. Auf dem benachbarten Truppenübungsplatz Oberlausitz fühlen sie sich besonders wohl. Die Sorben, die in dieser Region leben, nennen Weißwasser Bela Woda. Zur Wende lebten 36 790 Menschen hier, heute sind es weniger als 17 300. Laut einer Prognose soll die Einwohnerzahl bis 2030 um weitere 23,3 Prozent sinken - zumindest wenn man nichts dagegen unternimmt.
Im „Wegweiser Kommune“ der Bertelsmann-Stiftung ist Weißwasser als Typ 9 vermerkt - „stark schrumpfende Kommunen mit besonderem Anpassungsdruck“. Fast alle der 264 betroffenen Städte liegen im Osten. Oberbürgermeister Torsten Pötzsch (Bürgerinitiative Klartext) hat all diese Zahlen in eine Präsentation eingebaut. Sie beginnt mit Zitaten aus Medien: „Wenn die Menschen von Weißwasser von ihrem Leben während der letzten Jahre erzählen, klingt das so, als sei von einer Naturkatastrophe die Rede, die ihnen alles genommen hat, auch das, was ihnen das Liebste war“, schrieb „Die Zeit“ 2004.
Elf Jahre später sieht Pötzsch die Einwohner noch immer gespalten: „Die einen brennen für die Stadt, die anderen nehmen alles nur negativ wahr.“ Wenn ehemalige Bewohner nach ein paar Jahren mal wieder in die alte Heimat kämen, seien sie von den Veränderungen meist angetan - zum Beispiel von der Stadtsanierung. Auch an der Karl- Marx-Straße, die am Rathaus vorbeiführt und nahtlos in die Straße der Einheit übergeht, sind viele Häuser saniert. An Baulärm hat man sich gewöhnt. Jahrelang war die Abrissbirne das wichtigste Arbeitsgerät.
Der Oberbürgermeister zählt mit 44 Jahren zu den jüngeren Einwohnern. Der ausgebildete Banker und Betriebswirt spricht mit Herzblut über seine Stadt: „Wenn ich den Kopf in den Sand stecken würde, was sollen da erst die Bürger machen.“ Pötzsch hat bis auf seine ersten Lebensmonate immer in Weißwasser gelebt. Seine Eltern kamen wegen der Glasindustrie. Alles, was zur Glasherstellung nötig ist, findet sich in dieser Gegend im Überfluss: Sand, Kohle und Holz. 1870 entstand die erste Glashütte. Anfang des 20. Jahrhunderts war Weißwasser größter Glasstandort der Welt.
Nur noch zwei Glasfabriken in Betrieb
Von den elf Glasfabriken aus DDR-Zeiten sind nur zwei übriggeblieben, eine davon ringt in der Insolvenz um ihr Überleben. Die früheren Glanzzeiten sind heute im Glasmuseum dargestellt. Von einst 4 000 Glas-Arbeitsplätzen blieben nur zehn Prozent übrig. Die Reanimierung dieses Industriezweiges gelang nur bruchstückhaft. In der Braunkohle sind von vormals 6 000 Beschäftigten nur noch etwa 600 da. Insgesamt verschwanden mehr als 10 000 Industriearbeitsplätze.
Da ihr Wegfall durch Neuinvestitionen nicht zu kompensieren war, zogen die Menschen fort. Lange habe die Angst vor einem Verlust des Jobs die Grundstimmung in der Stadt gedrückt, sagt Thorsten Rennhak. Der 47-Jährige ist für Stadtentwicklung und Wirtschaftsförderung zuständig. Aus seiner ehemaligen Schule leben heute von 25 Klassenkameraden nur noch sieben in Weißwasser und Umgebung.
Irgendwann landet jeder, der in Weißwasser investieren will, bei Rennhak. Dieser räumt ein, dass die Investoren bei ihm nicht gerade Schlange stehen: „Manchmal ist das ein frustrierender Job. Ein Schluck aus der Pulle wäre gut für die Stadt“. Mitunter fühlt sich Rennhak wie ein Ansiedlungsbeauftragter, dem die Hände gebunden sind: „Da ist ein schwieriges Geschäft. Das eigentliche Totschlagargument ist die Verkehrsanbindung. Da haben wir schlechte Karten.“
Rennhak weiß, dass die eigentliche Gründerzeit im Osten ohnehin vorbei ist. Statt großer Neuinvestitionen gehe es inzwischen mehr um „Bestandspflege“. Es klingt seltsam: Aber Weißwasser hätte gar keinen Platz für Riesen-Ansiedlungen. Die Stadt ist zwischen Tagebauen und Militärgelände eingekeilt und kann deshalb nicht ohne weiteres großflächiges Gewerbegebiet ausweisen.
Der Umbruch in Weißwasser lässt sich an den Biografien der Bürger ablesen. Viele gingen. Rennhak kehrte zurück, weil er nach dem Studium in Cottbus dort keinen Job fand. „Ich habe den Strukturwandel damals nicht als dramatisch wahrgenommen. Das war eher ein schleichender Prozess. Da wurde nicht alles über Nacht dichtgemacht“, sagt er und schildert das Instrumentarium der Abwicklungsphase: Kurzarbeit Null, ABM, Umschulung - für manche ein wiederkehrendes Mantra. „Meine Eltern haben sich von Maßnahme zu Maßnahme gehangelt“, erinnert sich Pötzsch und spricht von einer Verlierergeneration.
Wer Luftbilder Weißwassers von 1990 und 2015 vergleicht, sieht das ganze Ausmaß an Veränderungen. Die örtliche Wohnungsbaugesellschaft (WBG) wurde zu einem Hauptakteur der Umgestaltung. „Wir haben einen ganzen Stadtteil abgerissen. „Wenn man jetzt durch die Südstadt läuft, sieht man nichts mehr davon“, sagt WBG-Chefin Petra Sczesny. In der Südstadt hatten vor allem die Kraftwerker aus Boxberg gewohnt.
„Weißwasser hat tiefste Täler durchschritten“
2000 begann Weißwasser als eine der ersten Städte in Ostdeutschland mit dem Rückbau - so heißt der Abriss von Wohnungen und Häusern offiziell. Bis 2012 waren schon knapp 4 100 Wohnungen verschwunden. Das entspricht einem fünf Kilometer langen Wohnblock mit fünf Etagen, gibt Pötzsch eine Vorstellung. „Wir haben volle Blöcke abgerissen, die Bewohner mussten mit Wohnungen in der Innenstadt versorgt werden. „Auch für die Mieter war das eine Chance. Wir haben so umgebaut, dass individuelle Wohnungen entstehen konnten“, berichtet Sczesny.
„Weißwasser hat tiefste Täler durchschritten. Die Industrie brach zusammen, die Menschen gingen weg und die Stadt überalterte immer mehr“, sagt die Geschäftsführerin. Wer Sczesny erlebt, mag an eine sterbende Stadt nicht glauben. Mit Leidenschaft preist sie die positiven Veränderungen an. Sie steht für den Wandel in der Stadt: „Mein Herz ist hier. Wenn jemand sagt: Mit Weißwasser geht es abwärts, dann nehme ich das persönlich.“
„Jetzt fängt der Stadtumbau an, Spaß zu machen. Nun können wir uns austoben“, sagt die 54-Jährige. Statt Abriss gehe es inzwischen verstärkt um „Teilrückbau“. Manchmal fällt nur eine Etage weg. Sczesny nennt das „Form hereinbringen“. Dafür können sich Mieter so wie in der Sonnenberg-Siedlung über Dachgärten freuen. Die Durchschnittsmiete liegt bei 4,28 Euro warm. 2015 will die WBG kein Haus abreißen, perspektivisch müssen wohl aber noch 800 Wohnungen verschwinden.
Der „Blaue Engel“ steht noch
Nur ein Elfgeschosser erinnert noch an jene Zeiten, als Weißwasser so etwas wie eine Skyline hatte. Die Einheimischen nennen das Gebäude den „Blauen Engel“. Künstler haben die Fassade gestaltet. Heute hat die WBG noch rund 4 000 Wohnungen im Bestand, 14 Prozent davon stehen leer - ein für ostdeutsche Verhältnisse übliches Maß. Insgesamt ist die Stadt grüner geworden. In der Sonnenberg-Siedlung wurde bereits ein Mix aus jungen und älteren Mietern erzielt. Das ist das Ziel.
Nicht wenige der jungen Menschen von Weißwasser gehören zur Hartz IV- Generation. Meistens wandern die jungen und gut ausgebildeten Frauen ab. Es gibt aber auch schon leise Anzeichen für eine Trendwende. Manche der früheren Weißwasseraner wollen aus dem Westen wieder zurück in die Beschaulichkeit ihrer alten Heimat. Die Stadt hat ein Telefon für Rückkehrer geschaltet.
Die werden praktisch mit Handschlag begrüßt. Jeder bekommt ein Begrüßungspaket - mit Gutscheinen für Besuche der Bibliothek, der Schwimmhalle, des Tierparks und des Glasmuseums. „Wichtig ist, dass die jungen Leute gar nicht erst weggehen“, sagt Pötzsch. Deshalb hat sich die Stadt mit Firmen der Region vernetzt, gibt Hinweise zu Praktika, Lehrstellen und Sportmöglichkeiten. Der Oberbürgermeister kennt viele Unternehmer persönlich, weil er als Banker einst ihre Firmen mitfinanzierte.
„Man muss hier nicht mehr weggehen. Es gibt gute Ausbildungsplätze und man hat Chancen, einen Job zu bekommen“, sagt Rennhak und erwähnt das sanierte Berufsschulzentrum. Weißwasser könne aber nur im Zusammenleben mit der Region existieren. Der Stadtentwickler zeigt auf einer Landkarte auf das Lausitzer Seenland, wo alte Tagebaue gezielt geflutet wurden und nun Touristen anlocken sollen.
Stadt als „Tor zum Osten“?
Hoffnung werden auch mit dem Ausbau des Grenzüberganges in Krauschwitz verbunden. Polen ist nur sechs Kilometer entfernt. Wenn mehr Lastkraftwagen ohne Tonnage-Begrenzung über die Grenze rollen, könnte ein Stück des Kuchens für Weißwasser abfallen, so die Überlegung. Laut Rennhak könnte die Stadt ein „Tor zum Osten“ sein: „Wenn die EU weiter zusammenwächst, ließen sich neue Perspektiven entwickeln.“
Bei allen Veränderungen steht eines fest: Weißwasser wird sich weiter anpassen müssen. In absehbarer Zeit ist die Braunkohle Geschichte. Rennhak glaubt, dass die Stadt ein Mittelzentrum mit 15 000 bis 17 000 Einwohnern bleibt. „Die Tagebaue werden verschwinden, die Restlöcher zu Seen. Damit gewinnt Weißwasser für Touristen an Bedeutung.“ Denn von hier bis zum Weltkulturerbe Fürst-Pückler-Park in Bad Muskau sei es nur ein Katzensprung.
Um die Zukunft von Weißwasser ist auch Pötzsch nicht bange. „Ich sehe eine saubere Stadt mit Vielfalt, kleinen innovativen Firmen, eine Sportstadt, ein Stadt mit sozialer Kompetenz und Kreativität“, sagt er. Dafür will der OB seine Mitbürger motivieren. (dpa)