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Als Herr E. auswandern wollte

Die in Freital geborgenen DDR-Akten liegen jetzt sicher im Kreisarchiv. Sie zeigen, wie man Ausreisewillige schikanierte.

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© Thorsten Eckert

Von Jörg Stock

Steffen Eichwald* will weg. Er ist erst 21, sieht aber schon keine Zukunft mehr für sich in seinem Land. Eichwald ist Fachverkäufer im Konsum. Er hat die Verhältnisse satt, die Art, wie mit ihm umgesprungen wird. In diesem Staat zu leben, empfindet er als Strafe. Und das gibt er den Vertretern dieses Staates zu Protokoll. Am 30. November 1987 reicht er beim Rat des Kreises Freital, Abteilung Innere Angelegenheiten, sein Übersiedelungsersuchen ein, seinen Antrag auf ständige Ausreise aus der DDR.

Archivarin Claudia Nowak zeigt Blätter aus dem Freitaler Aktenfund. Papiere, die sich mit der Ausreise aus der DDR befassen, wurden mikroverfilmt, sodass die Originale nicht benutzt werden müssen, um für Betroffene darin zu blättern.
Archivarin Claudia Nowak zeigt Blätter aus dem Freitaler Aktenfund. Papiere, die sich mit der Ausreise aus der DDR befassen, wurden mikroverfilmt, sodass die Originale nicht benutzt werden müssen, um für Betroffene darin zu blättern. © Norbert Millauer

26 und ein halbes Jahr später. Wir sind im „grünen Raum“ des Archivverbunds auf dem Pirnaer Sonnenstein. Das gewaltige Aktenlager ist das Gedächtnis des gesamten Landkreises und seiner Vorgänger und hat sechs Etagen. Jede Etage hat ihre Farbe. Das soll die Orientierung erleichtern, sagt Claudia Nowak, Diplom-Archivarin, indem sie an der Fahrregal-Anlage kurbelt. Lautlos weichen die tonnenschweren Schrankreihen und geben den Weg zum Regal 29 frei, das die Aufschrift „Sonderbestand Aktenfund Freital“ trägt.

In 116 mausgrauen Kartons lagert hier das Schriftgut, das im Oktober 2009 im Keller der alten Niederpesterwitzer Schule in Freital gefunden wurde. Als Bauarbeiter die Papiere in einer zugemauerten Latrine entdeckten, brach Riesenwirbel los. Sogar von Stasi-Akten war kurzzeitig die Rede. Bald stellte sich heraus, dass es Schriftstücke des einstigen Rates des Kreises Freital sind. 27 laufende Meter im Ganzen. Etwa ein Meter davon sind Aufzeichnungen der Abteilung Innere Angelegenheiten (IA) über ausreisewillige Bürger. 21 Aktenblätter enthalten auch den echten Namen des Mannes, der hier Steffen Eichwald heißt.

Dieser Mann könnte die Geschichte seines Ausreiseantrages jetzt nachlesen. Seit Jahresbeginn sind sämtliche Papiere des Aktenhorts, die mit Ausreisesachen zu tun haben, erschlossen. 4.820 Blatt. Nach der Bergung wurde jedes einzelne getrocknet, nummeriert, mikroverfilmt, ausgedruckt und durchgelesen, der Inhalt jedes Schriftstückes wurde erfasst und in einer Datenbank gespeichert samt aller Namen, die darin vorkommen. Wer Einsicht nehmen will, gibt seine Personalien an – einen Augenblick später steht fest, ob Material über ihn vorhanden ist und was darin steht.

Die Sichtung und Eingabe von Inhalten und Personennamen dauerte zwei Jahre. Unterdessen gab es zehn Anfragen von vermeintlich Betroffenen. Das ist wenig, sagen die Archivare. Seit Jahresbeginn hat sich gar niemand mehr gemeldet, obwohl das Projekt mehrfach Thema in der Presse war. Wieso interessiert sich keiner dafür? Die Archivleute rätseln. Vielleicht hat sich die Sache noch nicht herumgesprochen. Vielleicht haben die Leute ihre Vergangenheit aber auch abgehakt. Vorbei, Geschichte.

Auswandern – in der DDR ein hochbrisantes Thema. Von Staats wegen waren ordentliche Ausreisegesuche gar nicht vorgesehen. Die Anträge, die bei den Räten der Kreise aufliefen, galten bis auf Ausnahmen als rechtswidrig. Da die Staatsführung sie aus Rücksicht auf ihr internationales Ansehen nicht ignorieren konnte, versuchte sie, die Antragsteller zur Umkehr zu bewegen. Dazu wurden die Betreffenden immer wieder zur Abteilung IA zitiert und bearbeitet. Oft kamen Schikanen im Alltag dazu, am Arbeitsplatz, im Wohngebiet, in der Schule. Die Volkspolizei und das Ministerium für Staatssicherheit beobachteten die Antragsteller, um ihre Solidarisierung mit Gleichgesinnten und öffentliche Protestaktionen zu vereiteln. Wer westdeutsche Stellen anschrieb, um seinen Fall zu schildern, konnte glatt wegen ungesetzlicher Verbindungsaufnahme ins Gefängnis wandern.

Was die Volkspolizei über den Konsumverkäufer Steffen Eichwald herausbekam, taugte nicht, um ihn zur „feindlich negativen Person“ zu stempeln. Er kommt seinen staatsbürgerlichen Pflichten gewissenhaft nach, meldete der ABV. Er ist Halter eines Simson-Mopeds. Er trinkt keinen Alkohol im Übermaß. Er kam nie mit der sozialistischen Gesetzlichkeit in Konflikt. Westverwandte hat er keine und seinen Ausreiseantrag hängt er nicht an die große Glocke.

Ein „Leibeigener“ des Staates

Trotzdem sind Abteilung IA, Stasi und Polizei sich einig: Eichwald muss bleiben. „Es wurde deutlich“, steht im Entschlussvorschlag, „dass das Gesuch aus der vom Gegner hereintransportierten bürgerlichen Interpretation des Begriffs Freiheit resultiert.“ Und weiter: „Herrn E. ist in geeigneter Weise beizubringen, dass er sich den gesellschaftlichen Normen unterzuordnen hat.“ Im April 1988 wird Steffen Eichwald zum „Ablehnungsgespräch“ bestellt. Über den Bescheid empört er sich. Er fühle sich wie ein Leibeigener, wie ein Besitztum des Staates, klagt er. „Sie hören von mir!“

Am 20. Oktober 1989 revidiert sich die Abteilung IA. Steffen Eichwald soll mit Frau und Kind am 31. Dezember 1989 die DDR verlassen dürfen. Doch schon am 9. November ist die Grenze, die Eichwald überqueren soll, praktisch nicht mehr da.

*Name von der Redaktion geändert