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Am Bahnhof geht eine Ära zu Ende

Ab Sonnabend rollen die Züge wieder in Zittau. Sieghart Kaiser erinnert an die wirtschaftliche Bedeutung des Güterverkehrs.

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Von Mario Heinke

Zittau. Reisende können aufatmen, ab Sonnabend rollen die Züge von und nach Zittau wieder fahrplanmäßig. Der Schienenersatzverkehr mit Bussen ist Geschichte. Seit dem Frühjahr 2016 investieren Deutsche Bahn und Bund noch bis 2019 rund 45 Millionen Euro in die Modernisierung der Bahninfrastruktur am Zittauer Bahnhof. Weil der Bahnhof keinen Güter- und Grenzverkehr mehr abwickelt, wie zuletzt noch zu DDR-Zeiten, gehört zur Erneuerung auch der Rückbau von nicht mehr genutzten Gleisen, Weichen und drei Stellwerken.

Sieghart Kaiser war 40 Jahre lang als Eisenbahner am Bahnhof Zittau beschäftigt.
Sieghart Kaiser war 40 Jahre lang als Eisenbahner am Bahnhof Zittau beschäftigt. © Mario Heinke

Das ist eine Zäsur, denn die Deutsche Bahn gibt die bestehende, über Jahrzehnte gewachsene Infrastruktur für den Güterverkehr endgültig auf. Ein neues, unbemanntes, elektronisches Stellwerk wird nun vom Fahrdienstleiter in Bischofswerda aus ferngesteuert. Die letzten Mitarbeiter wurden laut Deutscher Bahn im Herbst in andere Stellwerke in Ostsachsen versetzt oder gingen in den Ruhestand. Am Bahnhof verbleiben künftig lediglich einige Mitarbeiter zur Instandhaltung der technischen Anlagen.

Der ehemalige Reichsbahner Sieghart Kaiser hat in den letzten Jahren zugesehen, wie aus dem Zittauer Bahnhof, der einst ein großer Umschlagplatz für Güter aller Art gewesen ist, ein reiner Haltepunkt für den Reiseverkehr wurde. Für den kompletten Rückbau der Güterabfertigung am Bahnhof Zittau kann er kein Verständnis aufbringen. Dass die Deutsche Bahn den Güterverkehr kampflos der Straße überlässt, wertet der Rentner als Triumph der deutschen Autolobby.

Ehemalige Stellwerke am Bahnhof Zittau

Stellwerk W1 am Anfang des Bahnhofs, bediente die Gleise aus und in Richtung Grottau, Hirschfelde und zur Schmalspurbahn, Zug- und Rangierfahrten zu den Gleisen 50, 52 und 53a

Das Behelfsstellwerk B2 wurde 1932 auf dem Wärterstellwerk aufgestockt, Telefon-, Vermittlungs- und Fernschreibdienst zogen ein. Alle Züge wurden dort an- und abgemeldet.

Stellwerk W3 am Ende des Bahnsteigs Gleis 2 bis 5 mit Zentralheizung hat zwei Stellwerkskanzeln, bediente die Bahnsteige und Güterzuggleise 12 a, 13, 40 bis 45.

Stellwerk W4 in der Mitte des Bahnhofs trennte den Reisezug- und Güterzugbereich und stellte die Weichen für Loks und Treibfahrzeuge zu den Reise-oder Güterwagen.

Stellwerk W5 unmittelbar neben dem Bahnbetriebswerk war nicht unmittelbar bei der Sicherung der Zugfahrten beteiligt, bediente die Gleise der Behandlungs- und Bekohlungsanlage sowie der Sand-Vorratskammer.

Stellwerk 6 bediente die Hauptgleisweichen, Gleis 26, die Ablaufanlage und die Weichen zu den Sortiergleisen.

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Bis zu 462 Menschen waren früher am Bahnhof beschäftigt, erzählt der Zittauer. Allein die Anzahl der Stellwerke, 11 Hauptgleise, 67 Gleise und 173 Weichen zeugten von der großen Bedeutung des Bahnhofs für Wirtschaft und Warenumschlag in der Region. 1956 kam der gelernte Stellmacher zur Reichsbahn, arbeitete 40 Jahre lang als Rangierarbeiter, Weichenwärter, Ladestraßenaufsicht, Rangierleiter im Schichtdienst und seit 1985 als Betriebstechnologe auf dem Bahnhof Zittau. Ziemlich genau erinnert er sich daran, welche Betriebe und Einrichtungen außer der Deutschen Reichsbahn bis zur Wende 1989 am Bahnhof ansässig waren.

In den Lagergebäuden des Güterbahnhofs entlang der Herwigsdorfer Straße verlud der Großhandel zu DDR-Zeiten Obst und Gemüse, das direkt zum Bahnhof Dresden-Neustadt geliefert wurde. Die Pferdefuhrwerke der Zittauer Gärtner standen bis zum Löbauer Platz und warteten auf die Entladung, erinnert Kaiser sich. Mehrere Speditionen, die Farbenfabrik Wolfen und der Kraftverkehr unterhielten Büros und Lagerflächen. In einem ehemaligen Getreidelager, das zum Kühlraum umgebaut wurde, reiften Bananen. Auf den Gleisen 43 und 44 wurde Kohle entladen, das Gleis 45 nutzte der Chemiehandel zum Abfüllen von Topfwagen mit Salzsäure und anderen Chemikalien. Die Zollverwaltung fertigte im Bereich des Güterbahnhofs den kompletten Gütergrenzverkehr ab, kontrollierte die Leerwagen in Richtung Tschechoslowakei, Rumänien und Bulgarien akribisch. Am Gleis 17 befand sich ein Tanklager für Benzin und Diesel. Eine Rampe diente dem Verladen von Langeisen und Blechen, die Feuerrampe am Gleis 15/16 blieb feuergefährlichen Gütern vorbehalten. An der vorgelagerten Ladestelle des Bahnhofs in Pethau ließen die Robur-Werke die Fahrgestelle der Robur-Lastkraftwagen zur Weiterverarbeitung in Bautzen verladen. Das Gleis 4 benutzte die Post. „Bis 1961 wurde eine Seitenrampe am Gleis 59 zur Viehverladung genutzt“, erinnert sich der Eisenbahner und erzählt, dass dort auch Rennpferde für den Export in den Westen gefüttert wurden. Die Spezial-Pferde-Waggons kamen per Eilzug von Berlin-Hoppegarten und fuhren über Dresden nach Stuttgart weiter. Im Winter heizte eine stationäre Dampflok auf Gleis 56 über Verbindungsleitungen die Reisewagen vor, damit die zusteigenden Reisenden nicht in kalte Wagen steigen mussten.

„Es gab Tage, an denen drei Rangierloks im Einsatz waren. Heute kaum noch vorstellbar, aber manchmal standen mehr als 450 Waggons auf den Gleisen. „Da drehte sich fast nichts mehr“, so Kaiser, in dessen Rangierbrigade 26 Mann arbeiteten. Der Bahnhof stieß zuweilen an seine Kapazitätsgrenze. In den 1970er Jahren kam es sogar zu einem schweren Unfall am Stellwerk 4, als mehrere Waggons auf stehende Wagen aufliefen, seitlich entgleisten und sich auftürmten. Der Eisenbahner erinnert sich an einige „Vorkommnisse“.

Die Kommunikation zwischen den Rangierarbeitern, Lokführern und den Beschäftigten auf dem Bahnhofsgelände lief lange Zeit über Flaggen, Handzeichen und Trillerpfeifen. Erst mit Einführung der Rangierlok V 60 verständigten sich die Mitarbeiter über UKW-Sprechfunkgeräte, so der ehemalige Rangierleiter. Die Stellwerke trugen die Kennung „Dohle“. So war das Stellwerk 3 „Dohle 3“. Der Rangierleiter hieß „Rom“ und die Lok „Reinhold“. Im Laufe der Jahre änderten sich die Vorschriften immer wieder. Für tschechoslowakische Züge bestand „privilegierter Durchgangsverkehr“, Sonderbestimmungen und schriftliche Befehle sorgten immer wieder für Abweichungen vom Regelbetrieb im Alltag.

Nichts erinnert heute mehr an die einstige Betriebsamkeit. Das oft menschenleere Bahnhofsgebäude ist zur herausgeputzten historischen Kulisse ohne Funktion verkommen. Mit Wehmut denkt der ehemalige Eisenbahner an die alten Zeiten zurück. Er hofft, dass wenigstens das unter Denkmalschutz stehende Fahrdienstleiterstellwerk erhalten bleibt und, wie angekündigt, als Lehrstellwerk von der Hochschule Zittau/Görlitz zur Ausbildung genutzt wird.