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Verschollene Heilige verzweifelt gesucht

Vier wertvolle Schnitzfiguren verschwanden in den 60er-Jahren aus einer Brandenburger Kirche. Nun gibt es neue Hoffnung, die Kunstwerke doch noch zu finden.

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Verschollen: Die Plastik Anna Selbdritt mit der heiligen Anna, Tochter Maria und Jesuskind.
Verschollen: Die Plastik Anna Selbdritt mit der heiligen Anna, Tochter Maria und Jesuskind. © Andreas Förster

Von Andreas Förster

Vier verschwundene Schnitzfiguren aus dem 16. Jahrhundert, ein weltberühmter Theatermann, eine klamme Kirchengemeinde im südlichen Brandenburg, ein leichtfertiger Pfarrer, eine Auktion in Stuttgart – das sind die Ingredienzien eines Kunstkrimis, der seit mehr als einem halben Jahrhundert die evangelische Kirche in Brandenburg beschäftigt. Inzwischen ist auch eine Londoner Firma involviert, die weltweit nach geraubter Kunst fahndet. „Wir haben die große Hoffnung, nach so langer Zeit endlich einen Durchbruch zu erzielen und die Figuren zurückzuholen“, sagt Sebastian Rick.

Rick gehört dem Vorstand des Gemeindekirchenrats in der 1.300 Einwohner zählenden Elbe-Elster-Gemeinde Gröden im Süden Brandenburgs an. Der 35-jährige studierte Historiker, der im Konsistorium der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz in Berlin-Mitte arbeitet, hat durch seine privaten Recherchen die Fahndung nach den seit 1961 verschwundenen Kirchenplastiken aus Gröden ins Rollen gebracht. „Die Kunstwerke sollen wieder in unserer Kirche stehen“, sagt er. „Aber dazu müssen wir sie erst einmal finden.“

Die Geschichte beginnt an einem nicht mehr exakt feststellbaren Tag im Jahre 1961, einige Wochen oder Monate vor dem Mauerbau. An diesem Tag – so erinnerte sich 1964 der damalige Grödener Pfarrer Heinrich Edler in einer Befragung durch das für ihn zuständige Magdeburger Konsistorium – klopften zwei Männer an die Tür der 400 Jahre alten Martinskirche am Ortsanger. Einer der beiden sei laut Edler ein Bekannter von ihm gewesen, der an der Berliner Staatsoper beschäftigte Bühnenbildner Hainer Hill. Der andere Mann sei ihm von Hill als angeblicher Direktor des Kunstmuseums Moritzburg in Halle/Saale vorgestellt worden.

Die Aussagen Edlers in seiner Befragung gehen aus einem Schreiben vom 13. Mai 1964 hervor, das Sebastian Rick im Archiv des Konsistoriums gefunden hat. Demnach habe Edler damals ausgesagt, Hill und sein Begleiter hätten ihm ein finanzielles Angebot für vier spätgotische Holzbildhauerfiguren aus der Kirche unterbreitet: Für 600 D-Mark sollte er ihnen die im frühen 16. Jahrhundert entstandenen Schnitzwerke von St. Georg, St. Sebastian und St. Christophorus sowie von Anna Selbdritt – der Begriff bezeichnet in der christlichen Ikonographie eine Darstellung der heiligen Anna mit ihrer Tochter Maria und dem Jesuskind – verkaufen. Er habe ohne die notwendige Rücksprache mit dem Konsistorium und dem Gemeindekirchenrat dem Geschäft zugestimmt, um damit Geld für die finanziell notleidende Gemeinde zu bekommen, räumte Pfarrer Edler ein.

Damit aber war der Verkauf illegal und nicht rechtens. Denn für einen Handel mit Kunstwerken aus Kirchenbesitz gibt es strenge Vorschriften, die auch Pfarrer Edler – wie er in seiner Befragung einräumte – bekannt waren. Auch wurde das Geschäft per Handschlag abgewickelt und kein Kaufvertrag aufgesetzt, worauf ein redlicher Erwerber hätte bestehen müssen. Juristisch gesehen ist das Geschäft damit nichtig, und die Kirche hat ihr Eigentumsrecht an den vier Figuren nie verloren. Weil Edler das eingenommene Geld aber tatsächlich für die Gemeinde verwandte und nicht in die eigene Tasche steckte, beließ es das Konsistorium seinerzeit bei einer Missbilligung und sah von einem Disziplinarverfahren ab. Edler durfte Pfarrer bleiben und übte das Amt in Gröden bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1975 aus.

Aus den überlieferten Kirchendokumenten geht nicht hervor, woher der Grödener Pfarrer seinen Geschäftspartner Hainer Hill, den damals über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannten Theatermann aus Berlin, kannte. Hill, Jahrgang 1913, war eine Berühmtheit: 1950 hatte ihn Bertolt Brecht ans Berliner Ensemble geholt, wo er mit seinen, auf einer ausgefeilten Projektionstechnologie basierenden Bühnenbildern für Aufsehen sorgte. Am Berliner Ensemble profilierte sich Hill zudem als Theaterfotograf, viele seiner Aufnahmen werden heute im Bertolt-Brecht-Archiv der Akademie der Künste in Berlin aufbewahrt. 1953 wechselte Hill als Erster Bühnenbildner an die Ostberliner Staatsoper, wo er bis zum Mauerbau angestellt blieb. Seine Wohnadresse hatte der Künstler allerdings in Westberlin. Nach der Schließung der innerdeutschen Grenze im August 1961 blieb er im Westen, weshalb ihm Ostberlin den Nationalpreis versagte, den er eigentlich zum DDR-Jahrestag am 7. Oktober 1961 erhalten sollte. Hill zog nach Karlsruhe und arbeitete in den folgenden Jahren an Theatern in Karlsruhe und Dortmund. Hinzu kamen Gastaufträge als Bühnenbildner in aller Welt. Am 20. August 2001 starb Hill.

Auf den fragwürdigen Deal des Pfarrers mit dem berühmten Theatermann war das Konsistorium durch einen Zufall aufmerksam geworden. Dem Dresdner Professor für Kunstgeschichte und Denkmalpflege, Walter Hentschel, war 1964 in einer westdeutschen Kunstzeitschrift das Verkaufsangebot einer Schnitzskulptur aufgefallen. Hentschel war sich sicher, darin eine der Holzfiguren aus der Grödener Kirche wiederzuerkennen, auch wenn das Kunstwerk in der Zeitschrift als aus Thüringen stammend bezeichnet wurde.


St. Georg (l.), St. Sebastian (M), St. Christophorus(r).
St. Georg (l.), St. Sebastian (M), St. Christophorus(r). © Andreas Förster/Ulf Bischof

Gut vorstellbar, dass der Professor seinerzeit auch den ihm gut bekannten Dresdner Chefdenkmalpfleger Hans Nadler konsultierte. Nadlers Vater, ein in Gröden lebender Kunstmaler, hatte 1925 mit dem Pfarrer zusammen die jahrhundertealten Holzskulpturen auf dem Dachboden des Pfarrhauses entdeckt, die dort offenbar seit Langem vor sich hinrotteten. Davon wusste auch Nadlers Sohn, waren die Figuren doch seinerzeit nicht zuletzt auf Betreiben des Vaters restauriert worden und 1937 in die Kirche zurückgekehrt – als „eindrucksvoller Schmuck (…), der Zeugnis gibt von dem religiösen Sinn unserer Vorfahren und dem hohen Stand der Holzbildhauerkunst jener Zeit“, wie es in einem Schreiben des Denkmalkonservators der Provinz Sachsen aus dem Jahre 1938 heißt.

Das Konsistorium war überzeugt davon, dass Hill die in Gröden unrechtmäßig erworbenen Kunstwerke behalten und mit nach Karlsruhe genommen hatte. Ob man sich nach der Entdeckung in der Kunstzeitschrift aber auch an Hill wandte mit der Bitte um eine Rückgabe des unrechtmäßig erworbenen Kunstgutes, geht aus den überlieferten Dokumenten nicht hervor. Auch nicht, ob man staatliche Stellen in der DDR einschaltete. Vermutlich aber kehrte man den Fall unter den Tisch, weil es andernfalls mit Sicherheit zu einem Ermittlungsverfahren gegen Pfarrer Edler gekommen wäre, was die Landeskirche offenbar verhindern wollte.

„Ich hörte die Geschichte schon als Kind von unserem Pfarrer“, erinnert sich der aus Gröden stammende Sebastian Rick. „Sie hat mich nie losgelassen.“ Vor anderthalb Jahren beschloss er dann, auf Spurensuche zu gehen. Der Historiker suchte Zeitzeugen, durchforstete Archive. Ein paar Dokumente konnte er schließlich finden, aus denen sich die Geschichte rekonstruieren ließ. Und dann stieß er zufällig auf den Verkaufskatalog eines Stuttgarter Auktionshauses aus dem Jahre 2002. „Ich wollte meinen Augen nicht trauen: Da war doch tatsächlich die Anna-Selbdritt-Skulptur aus der Grödener Kirche abgebildet“, sagt Rick.

Für den 20. September 2002 hatte das Auktionshaus Nagel in Stuttgart eine Versteigerung von Alter Kunst und Antiquitäten angesetzt. Mit der Losnummer 1103 wurde die Plastik Anna Selbdritt aufgerufen, mit der – unzutreffenden – Herkunftsbezeichnung „Bayerisch, um 1520“. Zur Provenienz des Stückes wurde lediglich auf Englisch vermerkt: „Aus einer alten hessischen Sammlung.“ Als Einstiegsgebot wurden für die Skulptur, bei der es sich offensichtlich um eines der aus der Grödener Kirche stammenden Stücke handelt, 18.000 Euro genannt. Verkauft wurde die Anna Selbdritt – auch das bekam Sebastian Rick noch heraus – schließlich für 13.000 Euro. Nur wer die Figur erwarb, ist unbekannt. Auf Anfrage hatte das Stuttgarter Auktionshaus erklärt, dass man keine Unterlagen zu der damaligen Auktion mehr besitze.

Rick aber wollte noch nicht aufgeben und wandte sich an die in Karlsruhe lebende Witwe des 2001 verstorbenen Hainer Hill mit einer Nachfrage zu den Grödener Holzfiguren. Die Frau bestätigte ihm zwar, dass ihr Mann mehrere Plastiken besessen habe. „Aber um welche es sich dabei gehandelt habe, wisse sie nicht, erklärte sie mir“, sagt Rick. „Ohnehin seien längst alle Kunstwerke inzwischen verkauft, fügte sie noch hinzu.“ Aber Rick gibt die Suche nach den verschwundenen Kirchenfiguren nicht auf. „Wir wollen mit den jetzigen Besitzern der Holzskulpturen, die die Stücke wahrscheinlich gutgläubig erworben haben, ins Gespräch kommen über einen möglichen Rückkauf“, sagt er.

Die Kirchgemeinde hat inzwischen einen Berliner Rechtsanwalt eingeschaltet. Dessen Versuch, die vier verschwundenen Skulpturen aus der Grödener Kirche in die Lost-Art-Datenbank des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste in Magdeburg eintragen zu lassen, um auf diese Weise vielleicht in Kontakt mit den jetzigen Besitzern der Figuren zu kommen, schlug allerdings fehl. Magdeburg lehnte die Anfrage ab mit der Begründung, dass in der Datenbank keine Nachkriegsverluste gelistet werden.

„Wir haben uns daher entschieden, die Schnitzfiguren über das in London ansässige Art-Loss-Register ALR suchen zu lassen“, sagt Rick. „Das kostet uns zwar eine Gebühr, und wir müssen bei einem möglichen Rückkauf auch zehn Prozent des Kaufpreises an ALR entrichten. Aber wenn wir Erfolg haben, ist es uns das wert.“

Die Erfolgsaussichten stehen nicht schlecht: ALR, das mit Auktionshäusern, Kunsthändlern und Versicherungen kooperiert, gilt als weltweit größte Datenbank für verlorene und gestohlene Kunstwerke. Händler, die Kunst verkaufen oder versteigern lassen wollen, fragen die betreffenden Kunstgegenstände vorab in der Datenbank ab und lassen sie sich – sollten sie dort nicht enthalten sein – als unbedenklich zertifizieren. Bei ihren Recherchen arbeitet die Firma zudem mit Kunstfahndern der europäischen Polizei und des FBI zusammen und schaltet Suchanzeigen in internationalen Kunstzeitschriften.

Für die vier sakralen Schnitzbildwerke aus der Grödener Kirche bedeutet dies, dass sie nun nicht mehr so einfach auf dem legalen Kunstmarkt gehandelt werden können. Mit dem Eintrag beim ALR haben sie aber auch auf dem grauen Markt einen Wertverlust erlitten, sodass etwa für die Anna-Selbdritt-Personengruppe heute kaum mehr jene 13.000 Euro zu erlösen wären wie auf der Stuttgarter Auktion im Jahre 2002. Auf diese Weise sollen die derzeitigen Besitzer der Kirchenfiguren dazu gebracht werden, sich mit dem rechtmäßigen Eigentümer – der Grödener Kirchgemeinde – in Verbindung zu setzen, um über einen Rückkauf zu verhandeln.

Sebastian Rick ist zuversichtlich, dass der Plan aufgehen wird. „Und wenn die vier Figuren da sind, werden wir sie wieder in der Kirche von Gröden aufstellen“, sagt er. „Dort, wo sie hingehören.“