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Libanon: "Ich fühle mich wie auf der Titanic"

Die ganze Welt leidet unter dem Coronavirus. Doch für den Libanon war dieses Jahr besonders dramatisch. Und es könnte bald noch schlimmer kommen.

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Therese Adib und ihr Mann Hanna sitzen auf einem Sofa in ihrer Wohnung in Beirut. Sie gehören zu den Hunderttausenden verarmten Libanesen, die die schwere Wirtschafts- und Finanzkrise ihre Landes mit aller Wucht zu spüren bekommen.
Therese Adib und ihr Mann Hanna sitzen auf einem Sofa in ihrer Wohnung in Beirut. Sie gehören zu den Hunderttausenden verarmten Libanesen, die die schwere Wirtschafts- und Finanzkrise ihre Landes mit aller Wucht zu spüren bekommen. © Marwan Naamani/dpa

Von Jan Kuhlmann

Beirut. Einige Tage vor Weihnachten ist der Einkaufs-Trolley noch einmal gefüllt, am Griff hängt eine zusätzliche Tasche mit frischem Gemüse. Seit mehr als einem Jahr kommen Therese al-Dib und ihr Mann Hanna in den kleinen Laden im Beiruter Stadtteil Aschrafia, wenn der Kühlschrank des älteren Ehepaars leer ist und Hunger droht. Denn nur hier, bei der Hilfsinitiative "Beit al-Baraka", bekommen sie die lebensnotwendigen Lebensmittel umsonst. Geld für einen Einkauf in einem normalen Supermarkt haben die beiden praktisch nicht.

Therese und Hanna al-Dib, 77 und 83 Jahre alt, gehören zu den Hunderttausenden verarmten Libanesen, die die schwere Wirtschafts- und Finanzkrise ihre Landes mit aller Wucht zu spüren bekommen. Die Menschen in dem Land am Mittelmeer sind schmerzhafte Zeiten gewöhnt. Viele haben noch den Bürgerkrieg erlebt, der vor 30 Jahren endete. Sie leiden an einer korrupten politischen Elite. Sie klagen nur wenig, wenn wegen der maroden Infrastruktur wieder der Strom ausfällt oder kein Wasser aus dem Hahn kommt. Doch die jetzige Krise zählt zu den schlimmsten in der rund 100-jährigen Geschichte des Libanons.

Ein mit Kleidung und Ausrüstung von Ersthelfern und Feuerwehrleuten geschmückter Weihnachtsbaum steht am Eingang des zerstörten Beiruter Hafens. Der Weihnachtsbaum wurde zu Ehren der Feuerwehrleute aufgestellt, die am 04. August 2020 bei der Explosion im
Ein mit Kleidung und Ausrüstung von Ersthelfern und Feuerwehrleuten geschmückter Weihnachtsbaum steht am Eingang des zerstörten Beiruter Hafens. Der Weihnachtsbaum wurde zu Ehren der Feuerwehrleute aufgestellt, die am 04. August 2020 bei der Explosion im © Marwan Naamani/dpa

"Wir leben von Tag zu Tag", sagt Therese al-Dib. Schon vor der Krise sei das Leben schwer gewesen, jetzt habe sich die Lage verschlimmert. Das ältere Ehepaar muss ohne Rente auskommen in einem Staat, der praktisch kein Sozialsystem bietet. Hanna al-Dib arbeitete früher auf Tagebasis als Maler. Eigentlich läge es an den vier Kindern, die beiden zu versorgen, wie es im Libanon üblich ist. Doch die haben selbst kaum Geld, um ihre eigenen Familien zu ernähren.

Das Ausmaß der Krise war für viele Libanesen erstmals im vergangenen Jahr spürbar geworden. Der Kurs des libanesischen Pfundes begann zu fallen, obwohl es eigentlich fest an den Dollar gebunden ist. Nach und nach brach eine Finanz- und Geldpolitik zusammen, in der Kritiker ein staatliches Schneeballsystem sehen, das die Verschuldung des Libanon in schwindelerregende Höhen getrieben hat.

Die Preise explodieren

Im Frühjahr konnte die Regierung Euro-Anleihen nicht bedienen. Die Banken sperrten die Konten, so dass viele Libanesen nicht mehr an ihr Geld kommen. Und als wäre das alles nicht schlimm genug, verschärfte erst die Corona-Pandemie und dann die verheerende Explosion im Hafen von Beirut mit mehr als 190 Toten die Lage noch weiter.

Libanons aktuelle Wirtschaftsdaten sind furchterregend: Die Wirtschaft schrumpft nach einem Bericht der Weltbank in diesem Jahr um fast 20 Prozent. Das libanesische Pfund hat auf dem Schwarzmarkt rund 80 Prozent seines Wertes verloren. Weil das Land wenig selbst produziert und stark von Importen abhängt, sind die Preise explodiert. Die Inflation liegt bei mehr als 130 Prozent, für Lebensmittel sogar bei mehr als 200 Prozent. Mehr als die Hälfte der rund sechs Millionen Menschen im Land lebt mittlerweile in Armut.

Ein regierungskritischer Aktivist schlägt bei einem Protest gegen die Erhöhung der Studiengebühren inmitten einer Wirtschaftskrise die Scheibe einer Bankfiliale mit einem Verkehrsschild ein.
Ein regierungskritischer Aktivist schlägt bei einem Protest gegen die Erhöhung der Studiengebühren inmitten einer Wirtschaftskrise die Scheibe einer Bankfiliale mit einem Verkehrsschild ein. © Marwan Naamani/dpa

Vor allem Libanons Mittelschicht erlebt einen schweren Absturz. Das seien "die neuen Armen" des Landes, sagt Maya Ibrahimchah, Gründerin und Chefin der Hilfsinitiative "Beit al-Baraka", die mit Projekten wie dem kleinen Umsonst-Laden nach eigenen Angaben mittlerweile mehr als 200.000 Menschen unterstützt. Es könnten bald noch mehr werden. Weil die Devisenvorräte immer weiter schrumpfen, dürfte die Regierung bald gezwungen sein, Importsubventionen zu kürzen. Sorgen vor einer Hyperinflation im Libanon machen sich breit. Die Lage bereite ihr Angst, sagt Ibrahimchah. "Ich fühle mich wie auf der Titanic."

Hemmungslose Selbstbereicherung?

Ohne ausländische Hilfe wird der Libanon die Krise nicht bewältigen können. Doch die Verhandlungen zwischen dem Libanon und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) sind seit Monaten eingefroren. IWF-Chefin Kristalina Georgiewa bescheinigte den Vertretern aus Beirut einen Mangel an politischem Reformwillen. Viele Libanesen sehen das Land schon seit Jahrzehnten von seiner politischen Elite ausgebeutet, der sie hemmungslose Selbstbereicherung vorwerfen.

Monatelange Massenproteste richteten sich nicht zuletzt gegen die Korruption, die allgegenwärtig ist. Ein Beispiel: Noch zu Beginn der Krise seien mehr als 3,5 Milliarden US-Dollar ins Ausland und damit in Sicherheit gebracht worden, sagte der libanesische Finanzexperte Dan Azzi. Geld, das dem Land jetzt fehlt. Azzi sieht zur Kürzung der Importsubventionen keine Alternative. Komme dieser Schritt nicht, reichten die Devisen noch 12 bis 18 Monate. "Aber dann müssen sie nicht nur die Subventionen kürzen. Dann geht hier das Licht aus."

Eine Frau bekommt Lebensmittel in der Nahrungmittelausgabe der Hilfsinitiative "Beit al-Baraka" im Beiruter Stadtteil Aschrafia.
Eine Frau bekommt Lebensmittel in der Nahrungmittelausgabe der Hilfsinitiative "Beit al-Baraka" im Beiruter Stadtteil Aschrafia. © Marwan Naamani/dpa

Aus einer Position der Stärke handelt die Regierung schon lange nicht mehr. Seit ihrem Rücktritt nach der Explosion ist sie nur noch geschäftsführend im Amt. Schon längst hätte ein neues Kabinett unter dem früheren Ministerpräsidenten Saad Hariri gebildet werden sollen. Doch wegen Machtkämpfen zwischen den politischen Blöcken - darunter die schiitische Hisbollah - ist die Regierungsbildung blockiert.

Libanesen wie Therese und Hanna al-dib haben keine Erwartungen mehr an die Politiker. "Unsere Hoffnung liegt bei Gott", sagt die gläubige Katholikin. Zu Hause hat sie alles ausgepackt, was sie im Laden von "Beit al-Baraka" bekommen haben. Jetzt sitzt sie auf einem Sessel in ihrer engen Zweizimmerwohnung, an deren Wänden überall Bilder von Jesus Christus und christlichen Heiligen hängen. Mittags bringt eine Hilfsorganisation Brot und Nudeln für die beiden Senioren.

Draußen gehen an diesem Tag immer wieder Gewitterschauer runter. Der Winter in Beirut kann kühl und nass sein. Bei Therese Al-Dib und ihrem Mann reicht aber das Geld noch nicht einmal für eine Heizung. "Wenn uns kalt ist, dann legen wir uns eine Decke über", sagt sie. (dpa)