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Die Freiheit in der Krise

Den pandemischen und politischen Verwerfungen zum Trotz bewerten viele Menschen ihren Job als sicher. Gleichzeitig ist die Bereitschaft, den Arbeitsplatz zu wechseln, so groß wie lange nicht mehr.

Von Annett Kschieschan
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Der Gender Pay Gap, also die Gehaltslücke zwischen Männern und Frauen, sorgt neben anderen Faktoren dafür, dass Frauen eher bereit sind, den Arbeitsplatz zu wechseln - dorthin, wo die Bezahlung leistungsgerecht erfolgt.
Der Gender Pay Gap, also die Gehaltslücke zwischen Männern und Frauen, sorgt neben anderen Faktoren dafür, dass Frauen eher bereit sind, den Arbeitsplatz zu wechseln - dorthin, wo die Bezahlung leistungsgerecht erfolgt. © AdobeStock

Wenn viele Wege offenstehen, fällt die Entscheidung für den richtigen oft ganz besonders schwer. Das gilt in vielen Lebenslagen, vor allem aber auch, wenn es um die Berufs- und Karriereplanung geht. Und allen weltpolitischen und sozialen Unsicherheiten zum Trotz ist die Bereitschaft, sich im Arbeitsleben neu zu orientieren gerade besonders hoch. Das legt zumindest die jüngste Auswertung des internationalen Beratungsunternehmens EY nahe. 48 Prozent der Beschäftigten haben demnach Interesse daran, ihren Job in absehbarer Zeit zu wechseln. Das sind so viele wie noch nie seit Beginn der Datenerhebungen des Unternehmens 2015. Zwar ergab die Umfrage unter mehr als 1.500 Beschäftigten in Deutschland auch, dass der Unterschied zwischen aktiver Neuorientierung und latenter Bereitschaft zur Veränderung recht groß ist – gerade einmal drei Prozent der Befragten schrieben konkret Bewerbungen für eine neue Stelle – ein gutes Bild der Lage zeigt sie dennoch.

Lust auf Entfaltung

Denn gerade die latent Wechselwilligen stehen heute im Fokus des modernen Recruitings. Headhunter wissen, dass Angebote gern gesehen sind. In den Personalabteilungen der Firmen muss man im Gegenzug heute mit mehr und schnelleren Kündigungsentscheidungen rechnen als noch vor einigen Jahren. „Der deutsche Arbeitsmarkt ist in Bewegung. Ein ganzes Berufsleben in nur einem Unternehmen zu verbringen, ist heute eher eine Seltenheit“, sagt Markus Heinen, Leiter des Geschäftsfeldes Personalberatungsdienstleistungen bei EY in Deutschland, und verweist auf die Befragung. Demnach fühlen sich gerade noch 22 Prozent der Beschäftigten „sehr eng“ mit ihrem Arbeitgeber verbunden – das sei der geringste Wert seit Erhebung der Studie. Und er ist gleichsam ein Alarmsignal für Unternehmen. „Die Firmen müssen ihr Recruiting an diese Realität anpassen“,so Heinen. Über „soziale aber auch physische Netzwerke können sie mit Fach- und Nachwuchskräften in Kontakt bleiben und ihre Prozesse so schlank und flexibel halten, dass sie innerhalb kurzer Zeit Stellen wieder neu besetzen können“, so die Empfehlung des Experten.

Fakt ist aber: Sie müssen den neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern etwas bieten können. Dazu gehören auch gut realisierbare Aufstiegschancen. So ergab die EY-Studie, dass sich nur noch 38 Prozent der Befragten mit ihrer aktuellen Position im Unternehmen abfinden wollen – der niedrigste Wert seit Beginn der Studienerhebung. Auch das ein Zeichen dafür, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer selbstbewusster geworden sind. Das mag auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen, doch Krisen lösen nach einer ersten Phase der Unsicherheit oft auch den Mut aus, Neues zu wagen. Dazu kommt der Fachkräftemangel, der die Befürchtung, nach einer Kündigung keinen oder nur einen schlechteren Job zu finden, in vielen Branchen gänzlich ausgeräumt hat. Und so verwundert es nicht, dass 89 Prozent der Befragten ihre aktuelle Stelle für „sehr sicher“ oder „ziemlich sicher“ halten.

Vor diesem Hintergrund ist auch Platz für Ideen zur Selbstverwirklichung. „Wir beobachten, dass sich Beschäftigte immer stärker individuell entfalten wollen. Gerade jüngere Berufstätige probieren sich heute häufiger aus. Unternehmen sollten ihnen die Möglichkeiten dafür geben“, so Jan-Rainer Hinz, Mitglied der Geschäftsführung, Personalleiter und Arbeitsdirektor von EY in Deutschland. Dafür sei es wichtig, eine offene Unternehmenskultur zu pflegen, in der auf die individuelle Situation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eingegangen werden könne. Sei es, weil sie sich mehr Entwicklungsmöglichkeiten oder Fortbildungen wünschen oder mehr Zeit und Flexibilität brauchen, um sich um die Familie zu kümmern.“

Gender Pay Gap bleibt Problem

Das passt zu einem weiteren Studienergebnis: Tendenziell sind vor allem Frauen bereit, Job und Unternehmen zu wechseln. 18 Prozent sehen sich in fünf Jahren in einer anderen Firma, bei den Männern sind es nur zwölf Prozent. „Patriarchalische Verhältnisse in so manchem Unternehmen, die berüchtigte gläserne Decke, schlechte Vereinbarkeit von Familie und Beruf – Frauen stoßen oft auf andere Hindernisse in Betrieben als Männer. Unternehmen müssen Diversität ernstnehmen und durch das Management vorleben – sonst brauchen sie sich nicht zu wundern, wenn weibliche Fachkräfte weiterziehen.“ Erschwerend hinzu komme der sogenannte Gender Pay Gap. So nehmen 38 Prozent der Frauen das Gehaltsgefüge innerhalb ihres Unternehmens als ungerecht wahr – nur 30 Prozent der Männer sehen das ebenso.

EY ist eine deutsche Prüfungs- und Beratungsorganisation. Gemeinsam mit der internationalen EY-Organisation betreut EY Mandanten überall auf der Welt.Seit 2015 bringt das Unternehmen die EY-Jobstudie heraus.