Rekord bei neuen Lehrstellen in Sachsen

Dresden. Erste Erfolge auf der Bühne: Sophia Michaelis ist gerne im Laientheater aufgetreten. Nun möchte die 15-Jährige aus Dresden Schauspielerin werden, "weil ich gerne andere Menschen spiele". Eine Tante habe ihr zugeraten, berichtet die Neuntklässlerin am Dienstag beim Pressegespräch zur Halbjahresbilanz auf dem sächsischen Ausbildungsmarkt. Dazu hat die Arbeitsagentur in die 121. Oberschule in Dresden-Prohlis geladen.
Genügend freie Lehrstellen gibt es in Sachsen – aber hat eine Oberschülerin die Chance auf beruflichen Erfolg bei Theater oder Fernsehen? "Sie wird einen Weg finden, dahin zu gelangen", sagt Schulleiterin Angela Boschütz. Bei ganz vielen anderen Schülerinnen hätte sie geraten, etwas anderes zu machen. Doch Sophia könne diesen Weg nach ihrem Eindruck gehen.
Klaus-Peter Hansen, Chef der sächsischen Arbeitsagenturen, drückt sich etwas vorsichtiger aus: Es gebe auch Berufe "hinter der Kamera", manchmal sei die zweite Berufswahl die bessere.
Berufsberatung auch per Video und im Internet
Hansen betont, dass Berufsberater die Jugendlichen nicht lenken sollen. "Es werden alle gebraucht", sagt er. Eine andere Neuntklässlerin, die Innenarchitektin werden möchte, weist er darauf hin, dass sie zunächst vielleicht erst mal Raumausstatterin lernen könnte.
In der Schulbibliothek hat Sophia Michaelis schon mit der Berufsberaterin Annegret Stein zusammengesessen. Die ist vor kurzem von einer anderen Schule dorthin gewechselt und freut sich, dass an der Prohliser Oberschule schon Bewerbungstraining und eine ganze Woche Berufsorientierung stattgefunden haben.
Die Neuntklässler konnten auch Betriebspraktika absolvieren. Der Jahrgang vor ihnen musste wegen Corona auf diese Erfahrung verzichten, nur ein Teil der Schüler konnte Praktika während der Schulzeit nachholen. Doch auch Berufemessen und andere Kontaktmöglichkeiten fielen zeitweise aus. Derzeit ist das Berufsinformationszentrum in der Dresdner Arbeitsagentur wegen Baumängeln geschlossen. Doch viele Informationen gibt es auf Beratungsseiten im Internet, oft auch als Film, und Berater stehen zu Gesprächen am Bildschirm bereit.

Berufsberater und Schüler machen auch Plan B
Beraterin Stein hat nicht die Aufgabe, einer Schülerin den Berufswunsch Bühne auszureden. "Der Wunsch des Jugendlichen ist vorrangig", sagt sie. Allerdings entwickle sie mit den Schülern nicht nur den Plan A, sondern auch die Pläne B und C, also Alternativen.
Schließlich kommen zur Berufsberaterin auch Schüler mit ganz anderen Vorstellungen: Justin mit den Sportschuhen, der seit dem fünften Lebensjahr Fußball spielt, möchte beruflich etwas mit Sport machen und ist auf Physiotherapeut gekommen. Maria wiederum weiß noch gar nicht, was sie werden möchte, reagiert aber klar ablehnend auf die Frage, ob ihr vielleicht ein Beruf in der Pflege liegen würde.
Hansens Statistik zeigt, dass unter den Wunschberufen der Lehrstellenbewerber in diesem Jahr wieder Verkäufer und Kfz-Mechatroniker vorne liegen. Dagegen ist der Koch-Beruf aus der Liste der Top-10-Wunschberufe herausgefallen – wohl wegen der Schwierigkeiten der Gastronomie während der Corona-Einschränkungen.

Seit zehn Jahren mehr Lehrstellen als Bewerber
Die Wünsche passen nicht immer zum Angebot: Etwa 1.800 Lehrstellen in Verkaufsberufen sind dieses Jahr in Sachsen zu haben, die Bewerber sind also zumindest rechnerisch unterzubringen. Doch Sachsens Betriebe wollen auch gerne rund 400 Mechatroniker ausbilden, 320 Zerspanungsmechaniker und 240 Gebäudetechniker. Besonders schwer haben es Betonbauer und Fleischereifachverkäufer, ausreichend Nachwuchs zu finden. In diesen Berufen kommen 25 freie Lehrstellen auf einen Bewerber, jedenfalls nach der Statistik der Arbeitsagentur.
Hansen sagt voraus, dass auch in diesem Jahr nicht alle Betriebe passende Jugendliche finden werden. Seit zehn Jahren übersteigt das Angebot an Lehrstellen die Nachfrage – zumal ein Teil der Jugendlichen studieren oder ein soziales Jahr absolvieren möchte. Sachsens Betriebe bieten in diesem Jahr die Rekordzahl von 17.562 Lehrstellen an, nach zwei Jahren Rückgang in Corona-Zeiten. "Die Unternehmer fassen wieder Mut", sagt Hansen.
Die Zahl ist ein Zwischenstand vom März. Bis zum Ausbildungsbeginn im Herbst melden sich erfahrungsgemäß noch Betriebe und Jugendliche bei den Arbeitsagenturen. 14.360 Lehrstellen-Interessenten haben sich bisher gemeldet, die Zahl sinkt seit Jahren.
Long Covid am Arbeitsmarkt zu befürchten?
In den nächsten Jahren werden die Schülerzahlen aber leicht steigen, sagt Hansen. Doch nie passten Angebot und Nachfrage ganz zusammen – wegen unterschiedlicher Interessen oder Fahrzeiten zur Berufsschule. Nur im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge gibt es derzeit weniger freie Lehrstellen als gemeldete Bewerber. Aus diesem Kreis fahren üblicherweise viele Jugendliche nach Dresden zur Ausbildung.
Arbeitsagentur-Chef Hansen hält es für möglich, dass die Abbrecherquote steigt. Schließlich konnten sich wegen Corona viele Jugendliche und Betriebe nicht so gut kennenlernen wie sonst vor dem Abschluss des Ausbildungsvertrags. "Das wären dann Long-Covid-Schäden am Arbeitsmarkt", also Spätfolgen der Pandemie. Doch bei Schwierigkeiten während der Lehre gebe es ausbildungsbegleitende Hilfen, auch die Kammern beraten. Die Unternehmer wüssten, dass die eigenen Ausbildung die beste Quelle für den Nachwuchs sei.
"Die Demografie-Uhr tickt gnadenlos", sagt Hansen und erinnert daran, dass Ersatz für ausscheidende Beschäftigte benötigt wird. Über Ausbildung für geflüchtete Ukrainer in Sachsen nachzudenken sei zu früh, findet Hansen. Sie seien schließlich "nicht hergekommen, um unser Ausbildungsproblem zu lösen". Die geflüchteten Menschen benötigten erst einmal Schutz und Hilfe. Noch könne niemand sagen, wer von ihnen auf Dauer in Deutschland und in Sachsen bleibe.