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Acht Sekunden freier Fall

Bautzens höchster Turm wurde am Donnerstag gesprengt. Für die Enso endet damit ein langes Kapitel.

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© Uwe Soeder

Von Marleen Hollenbach

Bautzen. Tut, tuuut. Zweimal ertönt die Hupe. Danach ist es still vor dem Absperrband. Nur ein Mann kontrolliert noch schnell seinen Fotoapparat. Hektisch drückt er ein paar Knöpfe. Für das Motiv, das er an diesem Donnerstag einfangen will, bekommt er keine zweite Chance. Und dann geht alles ganz schnell. Erst ist der Ruf des Sprengmeisters zu hören, dann knallt und raucht es am Turm. In weniger als acht Sekunden kippt der 110 Meter hohe Schornstein um.

Bilder von der Sprengung

Eine halbe Stunde vorher steht Enso-Mitarbeiter Jörg Liebscher am Heizkraftwerk in Teichnitz und schaut auf seine Uhr. „Etwas Wehmut ist schon dabei“, sagt er. Seit Monaten beschäftigen ihn die Abrissarbeiten. Kesselhaus, Wärmetauscher, Heizöltank – all diese Gebäude wurden bereits dem Erdboden gleichgemacht. Nur der Turm, der steht noch. Aber nicht mehr lange. Liebscher weiß, wie der Schornstein fallen soll. „Geplant ist eine Sprengfaltung“, sagt er. Übersetzt heißt das: Dynamit wurde am Boden des Schornsteins und in 48 Meter Höhe befestigt. Bei der Sprengung wird der Turm in zwei Teile zerlegt. Diese beiden fallen dann in Richtung Osten und Westen. „Wir sind gespannt, ob das alles klappt“, meint Liebscher. Vor allem eines ist dem Enso-Mitarbeiter wichtig. Keine 20 Meter neben dem Turm befindet sich eine große Photovoltaik. Die, so hofft er, soll möglichst heil bleiben.

Sicherheit geht vor

Dreiviertel Neun zeigt die Uhr. Noch ist Zeit für Erinnerungen. Kaum einer hier kennt das Heizkraftwerk so gut wie Wilfried Kliem. Der Elektriker war dabei, als die Anlage 1980 am Rand der Stadt Bautzen errichtet wurde. All die Jahre war das Werk in Teichnitz sein Arbeitsplatz. Vom Turm konnte er sich auf besondere Weise verabschieden. Am Mittwoch schaltete Kliem die Flughindernisbefeuerung aus. Gemeint sind die roten Lichter auf dem Schornstein, die Piloten nachts warnen sollen.

Noch zehn Mitnuten bis neun. Inzwischen haben sich die Polizisten an der Bundesstraße 96 aufgestellt. Die Beamten warten nur noch auf ein Kommando, bevor sie die Strecke sperren. Die Sicherheit geht vor. Zwar ist der Schornstein weit von der Straße entfernt. Doch es könnten ja Reste des Turms auf die Strecke fallen. Damit wirklich niemand zu Schaden kommt, haben die Einsatzkräfte das Gebiet großzügig abgesperrt. 30 Anwohner und Mitarbeiter von 15 Firmen mussten den Sperrbezirk kurzzeitig verlassen.

Fünf vor neun ertönt die Hupe zum ersten Mal. Den nächsten Signalton gibt es wenige Minuten später. Jetzt sind alle Blicke auf den Turm gerichtet. Ein paar Bautzener stehen am Absperrband. Bei Facebook haben sie von der Sprengung erfahren. Einer sah das Absperrband, der nächste die Sperrschilder am Straßenrand, so sprach es sich herum. Die Enso selbst hatte den Termin aus Sicherheitsgründen nicht öffentlich gemacht.

Ob nun mit oder ohne Zuschauern, das ist Michael Schneider egal. Der verantwortliche Sprengmeister hält das Funkgerät fest in der Hand. Dann gibt er das letzte Kommando. Punkt neun Uhr kracht der Turm in sich zusammen.

30 Kilo Sprengstoff in 345 Löchern

Keine halbe Stunde später steht der Sprengmeister dort, wo der Schornstein einmal stand. Der Staub hat sich verzogen, übrig geblieben ist ein Trümmerhaufen. „Die Sprengung ist zu 100 Prozent gelungen“, sagt Schneider. Vier Wochen haben er und sein Team sich auf diesen Moment vorbereitet. 345 Sprenglöcher und 29,5 Kilogramm Sprengstoff waren notwendig, um Bautzens höchsten Turm zu Fall zu bringen. Der Sprengmeister wirkt ruhig, doch das ist nur Fassade. „Bis die Anspannung bei mir weg ist, dauert es noch eine Weile“, sagt er und macht sich auf den Weg. Die Schäden beutachten, wie er sagt.

Die Scheibe eines benachbarten Gebäudes hat es erwischt. Trotz einer Schutzwand haben auch ein paar Platten der Photovoltaikanlage etwas abbekommen. Bei einer solch großen Aktion sei das aber normal, meint der Sprengmeister. Auch Enso-Mitarbeiter Jörg Liebscher ist zufrieden. „Nun geht es ans Aufräumen“, erklärt er. Bis Ende des Jahres müssen 2 000 Tonnen Beton und Stahl beseitigt werden.