Von Kathrin Krüger-Mlaouhia
Großenhain. Im Rucksack sind Verpflegung, Sonnencreme und Blasenpflaster eingepackt. Und HP Kerkelings Buch „Ich bin dann mal weg“. „Ich hab das von unserem Nachbarn bekommen und war begeistert“, sagt Claudia Stolper (48), Lehrerin aus Falkensee. Einfach mal geradeaus zu laufen, mit dem Weg als Ziel, das wollte sie auch auf dem Jakobsweg ausprobieren. Raus aus der täglichen Routine – für ihren Mann Sören (48), der als Arzt Verantwortung trägt, auch eine gute Idee. Nur eine Bedingung setzte der passionierte Elektroauto-Fahrer: Es muss eine Strecke mit einer E-Tankstelle in der Nähe sein. Bald fanden die Brandenburger im Internet zwei Tankstellen in Thiendorf an der A 13 und in Großenhain: Die Pilgerstrecke für einen Tag war gefunden.
Sohn Jolan (12) zum Laufen über 15 Kilometer zu bringen, war nicht allzu schwer, denn Jolan ist kein Stubenhocker. Doch was die Stolpers auf dieser Tour erlebten, lässt auch andere Kinderherzen höher schlagen. Es war sozusagen Abenteuer pur.
Vorausgesetzt, man ist bei den „Basics“ vorbereitet. Vorsorglich haben die Stolpers an Hüte gedacht. Auch die Wanderschuhe machen sich bezahlt, das werden die Pilger am Ende des Tages spüren. Vater Sören hat sich auf dem Handy die Pilgerstrecke angesehen. Immerhin kennen sich die Wanderer hier nicht aus. „Wir müssen nach dem Zeichen der Jacobsmuschel schauen“, hat Jolan zwar herausgefunden. Aber manchmal gibt es keine gelbe Muschel auf blauem Grund – oder sie wird übersehen.
Start nach Schlossbesichtigung
Service
Nach einer Schlossbesichtigung in Schönfeld geht es also los. Der Weg führt erst durchs Dorf, dann könnte die Familie ein Stück nach Süden und am Mühlbacher Teich entlanglaufen. Gemeinsam wird entschieden, an der Bundesstraße auf dem Radweg zu laufen, um ein wenig abzukürzen. Am Kreisverkehr Lampertswalde erblicken die Wanderer den großen Laminathersteller Kronospan. Jetzt schwenken sie doch lieber Richtung Mühlbach ab – eine sehr gute Entscheidung. Denn am sogenannten Heidelbornholz entdecken die Stolpers einen wunderschönen Rastplatz. „Süße Holzmöbel“, bemerkt Jolan und hat auch schon die Plakette gefunden, die die Erbauer und das Jahr 2011 kundtut. Während Äpfel, Getränke und Müsliriegel ausgepackt werden, erkundet Jolan eine kleine Box an der Sitzecke, in der ein Wandererheft steckt. Sofort greift er sich den dabei liegenden Stift und notiert: „Danke für die schöne Station hier! Ist echt toll für eine Rast. Auch eine kreative Gestaltung.“
Jolan lässt auch ein paar Getreideähren da, die er unterwegs mit seinem Papa bestimmt hat. Für Mutter Claudia ist das Laufen eher eine Duftreise. Sie riecht an allen Blumen und zieht die duftende Landluft tief in ihre Nase. Nur nicht da, wo es an der Milcherzeugergenossenschaft Quersa vorbeigeht. Doch dort gibt es viel zu schauen. „Guck mal da, eine kleine Windmühle“, macht Sören Stolper die anderen aufmerksam. Jolan hat schon die Schafe entdeckt, von denen eins aus dem Gatter entwischt ist. Mit Spaß treibt die Familie das Tier zu den anderen zurück. Vorbei an Mohn- und Glockenblumen sind die Stolpers schon ins Erzählen gekommen: über die Schule, die Arbeit, ja Gott und die Welt. Claudia Stolper kennt den Effekt als Lehrerin. „Freiwillig laufen Kinder bzw. Schüler nicht, man muss anfangs das Gemaule aushalten“, sagt sie. „Wenn die Kids dann erst mal laufen, machen sie das nicht mehr.“
Diesmal geht es allerdings nicht stramm vorwärts, sondern ganz gemütlich. Die Stolpers lassen sich Zeit, schauen in die Bauerngärten, achten auf die Jacobsmuschel. Die würde sie am Ortsausgang Quersa ein Stück nach Norden und dann an der Bahnlinie Großenhain-Ortrand entlangführen. Aber auch hier wählen die Stolpers eine andere Variante. Was sie in Schönfeld an Wegstrecke eingespart haben, geben sie jetzt wieder zu und laufen stattdessen Richtung Kalkreuth nach Süden. Denn eine Jacobsmuschel ist auch an diesem Wegweiser angebracht. „Viele Wege führen nach Großenhain“, adaptiert Vater Sören einen alten Rom-Spruch. Erneut stellt sich die Änderung als Glücksfall heraus.
An der Paulsmühle sehen die Wanderer Pferde und bald darauf etwas abseits eine große Fischtreppe. Lange schauen sie hier meditativ ins Wasser, doch ein Fischlein lässt sich nicht blicken. Auf dem Weg zum Kalkreuther Reiherhof aber dann die große Überraschung: eine Seilbahn über die Röder. Hier wird die Post über den Fluss zu einem privaten Anwesen gezogen. Die Stolpers sind schon weit herumgekommen in der Welt – aber so etwas haben sie noch nicht gesehen. Auch am Reiherhof selbst bleiben sie stehen. Hier erzählen Hinweistafeln des örtlichen Heimatvereins von der Bedeutung des Grundstücks zu Zeiten Augusts des Starken.
Entlang des Röderneugrabens geht es nun auf Großenhain zu. Die Skyline der Kleinstadt ist schon von Weitem zu erkennen. Weil die Sonne heiß brennt, macht die Familie nochmals Rast – alle legen sich einfach mitten auf den Weg am Damm, Arme und Beine weit ausgestreckt. Beim Wiederaufstehen merken die Stolpers die Kilometer in ihren Knochen. Da schmerzt die Hüfte, dort drückt der Schuh. Tapfer hält aber auch Jolan bis ins Stadtzentrum durch. Vorbei am Freibad und am ehemaligen Landesgartenschaugelände. Die Familie dreht sogar noch eine Runde durchs Tal der Gräser mit dem Barfußpfad und der archimedischen Schraube.
„War doch cool“, so Jolan. „Wir haben eine Menge Neues entdeckt.“ Für eine weitere Tour kommen sie aber lieber ein andermal wieder.
Weitere Teile aus der SZ-Serie „Sommer in Sachsen“ finden Sie hier.