Von Jörg Stock
Pirna/Dresden. Ein Mann hängt an der Flasche. Aber nicht an der, die man sich vorstellt. Flasche nennen sie hier den doppelkralligen Haken des Autokranes. Daran hat sich Markus Kopsch festgemacht und wird nun in den grauen Zuschendorfer Himmel gezogen, so, als wolle er da eine Zirkusnummer vollführen. Ein Kunststück ist es allerdings, das hier passiert: Eine 23 Meter hohe Tanne, über vier Tonnen schwer, lernt fliegen.
Der Weg der Striezelmarktfichte
Alle Jahre wieder braucht Dresden einen Baum für seinen Striezelmarkt. Gut gewachsen muss er sein und die unangefochtene Lufthoheit über die Budenstadt besitzen, in Harmonie mit der Nummer Zwei, der fünfzehn Meter hohen Weihnachtspyramide. Gute zwanzig Meter Wuchshöhe sind die Bedingung, sagt Sigrid Förster, Abteilungschefin Kommunale Märkte in Dresden, und zuständig für die Beschaffung des Striezelbaums. Der Suchradius beträgt etwa fünfzig Kilometer. Vierzig Angebote gab es diesmal, berichtet sie. Doch viele Anbieter hätten die Höhe ihrer Bäume deutlich überschätzt. Nicht aber das Ehepaar Hohlfeld. Am frühen Sonnabendmorgen begann die Bergung ihrer stattlichen Küstentanne in Pirna-Zuschendorf.
„Na, endlich mal was los hier“, ruft Dieter Hohlfeld den Leuten zu, die am Straßenrand neben Kranwagen und Tieflader das Geschehen verfolgen. Dass es mal so einen Rummel geben würde um ein zehn Zentimeter kleines Bäumchen, das er vor gut vierzig Jahren in einem Blumentopf geschenkt bekam, hätte sich Herr Hohlfeld im Traum nicht einfallen lassen. Damals wusste er nicht einmal, was er da überhaupt einpflanzte in seinem malerisch gelegenen Garten, unweit vom Landschloss Zuschendorf. „Ich wusste nur, dass es was ganze Besonderes ist“, sagt er.
Die Küstentanne, auch Riesentanne genannt, machte sich prächtig, vielleicht deshalb, weil der Überlauf von Hohlfelds Regenwassertank an ihren Wurzeln mündete. Doch nun ist dem Gärtner sein Baum zu weit über den Kopf gewachsen. Er drückt die Gartenmauer beiseite und wirft mächtige Schatten auf die Terrasse vor der Laube. Generell rüstet Hohlfeld den Baumbestand ab. Er und seine Frau sind über siebzig, die Zukunft des Gartens ist ungewiss. Da will er lieber reinen Tisch machen.
Dabei hilft ihm nun gratis die Dresdner Baumpflegefirma Deppner. Viele Male haben die „Arboristen“ schon den Striezelbaum geborgen. Es ist nichts Besonderes mehr, sagt Firmenchef Andreas Deppner, der per Funk seinen Mitarbeiter Kopsch am Kranhaken dirigiert. Routine ist es trotzdem nicht. Achtung vor dem Baum sei immer geboten. „Es ist ja ein Lebewesen.“
In der Tannenkrone knackt und knistert es. Baumpfleger Kopsch arbeitet sich abwärts, bis er die richtige Stelle gefunden hat, den Baum anzubinden. Schon ist er zurück auf der Erde, harzbekleckert. Wie es da oben aussieht? „Sehr dicht, und sehr buschig.“ Das klingt nach Model-Qualität. Wenig später tritt Deppner Junior mit der Motorsäge an den Stammfuß. Der Kran lässt seinen Arm, fünfzig Meter weit ausgefahren, schon ein wenig anziehen, damit der Baum nicht kippt. Deppner sägt, der Arm zieht – und da hängt die Tanne frei, da hebt sie ab, fliegt ins Novembergrau, ihrem Bett auf dem Tieflader zu. Das Kunststück ist vollbracht. Zurück bleibt Dieter Hohlfeld, der ein paar Äste aufräumt. Traurig? Ist er nicht. Er freut sich aufs Frühstück auf seiner neuen Sonnenterrasse.