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Auf zur Jagd auf Andersdenkende

George Orwells Roman „1984“ wird am Staatstheater Cottbus zum Vortrag mit Bürgersprechstunde.

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Winston (Boris Schwiebert) hat gegen das Ministerium keine Chance. Er wird für seine Leidenschaft bestraft, die er in einem hautfarbenen Body auslebt.
Winston (Boris Schwiebert) hat gegen das Ministerium keine Chance. Er wird für seine Leidenschaft bestraft, die er in einem hautfarbenen Body auslebt. © Marlies Kross

Von Marcel Pochanke

Die verbotene Liebe trägt in Cottbus Ganzkörperanzug, hautfarben und hauteng. Das soll nackte Menschen vorstellen, Winston und Julia, die sich mechanisch statt liebevoll umfassen: eine tödliche Grenzüberschreitung. In George Orwells Roman „1984“ ist die Leidenschaft der beiden, vollständiger Überwachung zum Trotz, ein Akt der unerhörten Rebellion und zugleich die Aufopferung für einen Moment empfundener Freiheit und Selbstachtung. Am Staatstheater Cottbus, wo Orwells Dystopie seit Januar im Spielplan steht, verpufft die Subversion, weil Regisseur Andreas Nathusius seinen Figuren nur noch eine steife, fast roboterhafte Existenz zugesteht. Spätestens in den Szenen angedeuteter Erotik wird das Ungeheuerliche, das Winston und Julia wagen, zur Posse, zu deutlich wird das Kalkül des Regisseurs, eine entmenschlichte Welt darzustellen. Die Texte geraten vor allem Boris Schwiebert in der Hauptrolle zum Vortrag, Lisa Schützenberger als Julia wirft mehr Lebendigkeit auf die Bühne, kann die Glaubwürdigkeit der Handlung aber nicht retten.

So verliert das Stück viel von dem, was Orwells Romanvorlage ausmacht: Das Warmherzige, bisweilen Heißblütige der Menschen, das ihren Widerstand verstehen lässt. Auch die Drohkulisse, vor dem die Welt von 1984 stattfindet, gerät in Cottbus arg schematisch. Als Winston schließlich im Folterkeller das Hirn gewaschen wird, ist das eher ein Schurkenstück als das beim Lesen beinah körperlich fühlbare Psycho-Drama, das Orwell schuf.

Der Cottbuser Bürgerchor, der für „1984“ erstmals zusammengerufen wurde, hätte das Ruder herumreißen können. Doch er darf nur als Abspann auf die Bühne, eindrucksvoll strömen die mehr als 60 Menschen nach vorn und zitieren unter anderem aus dem Snowden-Manifest: „Zu sagen, dass man keine Privatsphäre brauche, weil sie nichts zu verbergen haben, ist, als bräuchte man keine Meinungsfreiheit, weil man nichts zu sagen hat.“ Welches Instrument hätte Regisseur Andreas Nathusius mit diesem Chor gehabt. Aber während des Stückes kommen nur einzelne Personen per Videoeinblendung von Thomas Lippick zu Wort. Die Cottbuser äußern sich recht brav zu ihren Erfahrungen und Befürchtungen, etwa im Umgang mit sozialen Netzwerken. Das wirkt bemüht und ist inhaltlich hinlänglich bekannt. Ebenso wenig aufschlussreich ist ein improvisiertes Kantinengespräch mit dem Schauspieler Boris Schwiebert über seine Figur und was sie mit der Welt von heute zu tun hat. Der Versuch der Aktualisierung hat intellektuell das Format einer gut gemeinten Ratgebersendung.

Mehr Pep haben die Auftritte von Amadeus Gollner, der im Stück den verhängnisvoll über-angepassten Syme spielt. Als Syme 2.0 wirbt er erst für millionenfach angebrachte Minikameras und später für eine Partnerfindung-App, die nur noch die Personalausweisnummer braucht, um das ideale „Match“ zu ermitteln. Fiktive Zuschauer werden im Saal angesprochen und mit ihren aus dem Netz gezogenen Vorlieben und Neigungen erst vorgestellt, dann vorgeführt.

Nach diesen Ausflügen geht es wieder zurück in die triste Welt von Ozeanien, in der „1984“ spielt. Dort wird, auch mithilfe des Ministeriums--Mitarbeiters Winston, die Vergangenheit ständig angepasst, um die Herrschaft des Großen Bruders in der Gegenwart zu sichern. Mit allen Mitteln werden jene Menschen gejagt, die bloß anders denken. Es ist der Endzustand einer Diktatur, die nur vor ihrem Entstehen verhindert werden kann. Dagegen taugt Orwells Roman als wichtige Mahnung. Der Adaption für das Cottbuser Theater hingegen fehlt die Eindringlichkeit, um eine vergleichbare Wirkung zu entfalten.