Von Jana Mundus
Wer die Mäuse sehen will, muss sich umziehen: Laboranzug, Haarnetz, Mundschutz, frische Socken, Gummitreter. Wer die kleinen Nager anfassen will, braucht außerdem Handschuhe. „Wir müssen Keime von den Mäusen fernhalten“, erklärt Jussi Helppi die Vorsichtsmaßnahmen. Der Zoologe ist Tierschutzbeauftragter am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden (CBG) – und der Herr über Tausende Mäuse. Im Untergeschoss des großen Gebäudes ist die Versuchstierhaltung untergebracht. Rein kommt nur, was auch wirklich rein ist. Alles wird vorher in polierten Metallkammern durch trockene Hitze sterilisiert, keimfrei gemacht: Die schuhkartongroßen Kunststoffboxen mit eigener Lüftungsanlage, in denen die Mäuse leben. Die Wasserflaschen, die Einstreu, die Holzwolle für den Nestbau, sogar das in kleine Brocken gepresste Futter. Riesiger Aufwand für die kleinen Helden der Medizin.
Antibiotika, Impfstoffe oder Insulin für die Diabetes-Therapie – all diese Fortschritte der Medizin waren nur durch den Einsatz von Tierversuchen möglich. Ohne die Mäuse im Keller wären auch die Forscher des CBG hilflos. Das Zusammenspiel von Molekülen, Zellen und Organen können sie nur mithilfe der eigens dafür gezüchteten Versuchstiere ergründen. Oft brauchen sie nur deren Embryonen. Mehrere Tierpfleger kümmern sich um die Mäuse. Die aufwendige Haltung ist notwendig, nicht nur aus tierschutzrechtlichen Gründen. Nur mit gesunden Tieren können in Versuchen verwertbare Ergebnisse gewonnen werden. Möglich macht das die biologische Ähnlichkeit zwischen Mäusen und Menschen. Beide haben etwa 20 000 Gene, rund 15 000 davon gleichen sich. Die Maus ist auch deshalb Versuchtstier Nummer eins. In Sachsen wurden im Jahr 2014 insgesamt mehr als 85 000 Tiere zu Versuchszwecken gehalten. Fast 67 000 davon waren Mäuse. Der Rest Ratten, Fische oder auch Hühner.
Unumstritten ist all das nicht. Immer wieder protestieren Gegner von Tierversuchen auch in Dresden. Im Mai die Tierrechtsorganisation Peta vor der Medizinischen Fakultät Carl Gustav Carus der TU Dresden. „Für Tierversuche gibt es keine Notwendigkeit“, erklärt dazu Tierärztin Stephanie Kowalski von Peta. „Zum einen lassen sich die Ergebnisse aus den Experimenten nicht risikolos auf den Menschen übertragen, zum anderen gibt es zahlreiche tierfreie Alternativmethoden.“
Fortschritt oder nicht
Alles ohne Tierversuche. Das würde auch Axel Roers gefallen. „Der Respekt vor allem Leben ist ein hohes Gut, und auch eine Maus darf nicht leichtfertig geopfert werden“, sagt er. Der Arzt ist Direktor des Instituts für Immunologie der TU. Auch wenn die Wissenschaft Fortschritte gemacht hat. Roers weiß, dass es noch längst nicht für alles Alternativen ohne Tier gibt. Medikamente werden zwar auch in Zellkulturen erforscht. Am Ende steht aber immer der Test der neuen Substanzen am Tier. Der sofortige Einsatz am Menschen wäre zu gefährlich. In der Molekularbiologie schalten Wissenschaftler zielgerichtet bestimmte Gene im Erbgut der Maus aus. Dadurch wird deutlich, wofür welche Gene zuständig sind. So lassen sich Krankheiten erforschen. Die Ursachen Hunderter schwerer Erkrankungen sind bis heute unbekannt. Seit einigen Jahren können Forscher die genetischen Veränderungen der Patienten in Tieren nachstellen. Dadurch konnten zahlreiche Krankheitsmechanismen genau verstanden werden. „Es ist ethisch geboten, diese Chancen zu nutzen“, sagt der Arzt. Letztlich sei es eine gesellschaftliche Frage, ob Tierversuche auch in Zukunft noch stattfinden oder nicht. „Wir müssen uns entscheiden: Wollen wir weitere Fortschritte in der Medizin – dann brauchen wir Tierversuche – oder eben nicht.“ Die Behauptung, die Ergebnisse wären nicht auf den Menschen übertragbar, seien falsch. Gerade das Immunsystem der Maus funktioniere wie das des Menschen. „Die Grundprinzipien sind exakt die gleichen. Abweichungen finden sich nur im Detail.“
Einfach mal so eben ein Tier für einen Versuch aus dem Käfig nehmen – so funktioniert es nicht. Ein fast sechs Monate dauerndes Antragsverfahren geht jeder Test-reihe voraus. Auf 20 bis 50 Seiten muss genau aufgeführt werden, wofür die Tiere verwendet werden sollen, wie stark sie belastet werden. An der TU Dresden prüft Tierärztin Kerstin Brüchner diese Anträge als Tierschutzbeauftragte, empfiehlt die Gabe von Schmerzmitteln oder fragt Operationsmethoden nach. 2015 prüfte sie gemeinsam mit einer Kommission 66 Anträge auf Genehmigung eines Tierversuchs. Wer für seine Versuche Wirbeltiere oder Kopffüßer wie Tintenfische verwendet, braucht dafür eine Erlaubnis. Erteilt wird sie von der Landesdirektion. Zwischen 2013 und 2015 gingen dort 363 Anträge aus ganz Sachsen ein. In diesem Jahr sind es bis jetzt 109. „Forscher werden in der Öffentlichkeit häufig an den Versuchtstierzahlen gemessen“, sagt Kerstin Brüchner. Sinkende Zahlen sind gut, wachsende schlecht. Dabei würden die TU-Forscher viel Zeit in eine gute Planung ihrer Experimente stecken. Das Bestreben sei, so wenig Tiere wie möglich zu verwenden.
Mini-Gehirne aus Stammzellen
Dieses Ansinnen verfolgen auch die Forscher des Zentrums für Regenerative Therapien (CRTD) in Dresden. Der Professor für Genomik Gerd Kempermann konnte mit der Hilfe von Mäusen nachweisen, dass Erfahrungen die Neubildung von Hirnzellen beeinflussen und somit zu messbaren Veränderungen im Gehirn führen können. Seine Kollegin und Elly Tanaka entschlüsselte das Nachwachsen von Gliedmaßen der Salamanderart Axolotl „Für die Grundlagenforschung sind solche Versuche immens wichtig“, sagt sie. „Deshalb lebe ich damit, dass es diese Tests geben muss.“
Für die Mäuse im CBG könnte es in Zukunft weniger zu tun geben. Gerade veröffentlichte das Institut eine Studie, die erstmals Nervenzellen von Menschen und Menschenaffen vergleicht. Aus weißen Blutkörperchen gewannen die Forscher dafür Stammzellen, aus denen sie in der Petrischale Mini-Gehirne wachsen ließen. Diese Organoide könnten in Zukunft Tests mit Tieren ersetzen. „Aber das geht nicht von heute auf morgen“, sagt Jussi Helppi. Bis dahin will er dafür sorgen, dass es den Mäusen im Keller gutgeht.