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Außenseiter, Spitzenreiter

Sportakrobaten aus Sachsen sind international erfolgreich - trotzdem dürfen sie bei Olympia nicht starten.

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© kairospress

Sven Geisler

Die Sachsen sind spitze. Sie bilden mehr als die Hälfte der Formationen, die bei den Europameisterschaften der Sportakrobatik ab diesem Wochenende antreten. Die insgesamt 22 Starter in der Junioren- und Meisterklasse vertreten drei Vereine: den SC Hoyerswerda, den Dresdner SC und den SC Riesa. Diese besondere Stärke hat etwas mit Tradition zu tun, noch mehr mit den Bedingungen und am meisten mit dem persönlichen Engagement. „Die Sportakrobatik in Sachsen war schon zu DDR-Zeiten sehr gut aufgestellt“, sagt Werner Hassepaß – und sie ist es jetzt als der größte Landesverband in Deutschland: In 13 Vereinen sind 916 Mitglieder registriert.

Hassepaß hat in der DDR Meisterschaften organisiert, seit 1995 ist er Pressereferent im Deutschen Sportakrobatik-Bund. Kaum einer hat die Entwicklung dieses Sports, der Athletik und Kunst verbindet, so intensiv begleitet wie der 73 Jahre alte Berliner. Außer den Enthusiasten an der Basis wie Karin Fünfstück. Nach ihrem Umzug von See bei Niesky nach Hoyerswerda begann sie in den 1970er-Jahren, die Abteilung bei der BSG Aktivist Schwarze Pumpe zu entwickeln. Sie ist inzwischen 67 und hält nach wie vor die Fäden in der Hand, ehrenamtlich, versteht sich.

Ihr Sohn Björn Fünfstück, 38, gewann mit seiner Mixed-Partnerin Antje Michl 1995 bei der Junioren-WM in Riesa Bronze sowie Silber (1996) und Bronze (1997) bei Europameisterschaften. „Damals waren wir die einzigen Starter aus Hoyerswerda“, erzählt er – und vergleicht: „Zur WM 2016 hatten wir vier Gruppen am Start.“ Im polnischen Rzeszow werden es sieben Mädchen sein: zwei Nachwuchs-Paare und ein Trio bei den Juniorinnen.

Der Verein ist in der Spitze breiter aufgestellt denn je. Björn Fünfstück spricht von einem Netzwerk, das sich auszahlt. Er meint vor allem das Sportklassen-Konzept des Léon-Foucault-Gymnasiums, das es den Akrobaten ermöglicht, zweimal in der Woche vormittags zu trainieren. Das ist ein grundsätzlicher Punkt, in dem der Osten dem Westen voraus ist: die Verzahnung zwischen Schule und Leistungssport. „Die Sachsen hatten nicht das Geld wie Vereine in den alten Bundesländern, dafür das sportwissenschaftliche Know how“, meint Hassepaß. „Die Trainingslehre hat nach wie vor absolute Gültigkeit.“

Die Sportakrobatik ist außer in Hoyerswerda nur in Schwerin, Riesa und Dresden an den Schulen mit Sportprofil anerkannt. In der sächsischen Landeshauptstadt lernen fast 60 Kinder und Jugendliche der Akrobatik-Abteilung des DSC an Sportgymnasium oder -oberschule. Als Petra Vitera 1996 von der TuR Dresden kam, trainierten drei, vier Jungs mit den Turnerinnen. „Ich habe damals gedacht: Ich mache einfach mal los“, sagt sie. Im Juli gewann einer ihrer Schützlinge die Goldmedaille bei den World Games in Breslau, dem Großereignis für die nichtolympischen Sportarten.

Als Tim Sebastian in Dresden keinen geeigneten Partner mehr hatte, fand er den mit Michail Kraft in Riesa, wo das Duo mit Bundestrainer Igor Blintsov arbeitet. Vereinsdenken dürfe bei der Partnersuche keine Grenzen setzen, meint Vitera, denn die ist in der Sportakrobatik schwierig genug. Ober- und Untermann müssen perfekt zusammenpassen, für Hebefiguren und Würfe sind die Größen- und Gewichtsverhältnisse entscheidend.

Zudem gibt es eine Altersgrenze: Um international starten zu dürfen, muss der Obermann in dem Jahr der Meisterschaft 15 werden. „Dann hat man noch ein, zwei Jahre auf höchstem Niveau. Das Wachstum geht rasend schnell“, erklärt Vitera. Sebastian und Kraft gehen in Polen an den Start, obwohl sie mit den sich verändernden Hebeln zu kämpfen haben. Eine Prognose ist deshalb schwierig genau wie bei den anderen sächsischen Teilnehmern.

Die europäische Spitze wird dominiert von den Sportlern aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, aber auch die Briten, Belgier und Israelis gehören zu den Favoriten. Die deutschen Akrobaten sind eher die Außenseiter, was auch den Stellenwert ihrer Sportart hierzulande beschreibt. „Wir haben kein Bundesleistungszentrum, keine Stellen als Sportsoldaten oder bei der Bundespolizei“, sagt Vitera. „Für die Sportler geht es um die Perspektive: Abitur, Lehre, Studium. Wenn das mit dem Training nicht zu vereinbaren ist, hören sie auf.“

Das Problem: Ohne die Aussicht auf olympische Medaillen fallen einige Fördermöglichkeiten weg. Es hat schon mehrere Anläufe gegeben, die Sportakrobatik in das Programm aufzunehmen. Und Werner Hassepaß hat dafür ein ganz grundlegendes Argument: „Es ist eine der ältesten Bewegungskünste, die speziell trainiert werden müssen.“ Bereits auf Reliefzeichnungen aus dem alten Ägypten seien akrobatische Übungen zu sehen.

Bisher nur im Rahmenprogramm

Bisher aber dürfen Sportakrobaten bei Olympia nur die Eröffnungs- und Abschlussfeiern mitgestalten. „Davon sind die Herren vom IOC immer sehr angetan“, meint Petra Vitera. Sie sieht noch einen anderen Grund, für ihren Sport zu werben. „Die Sportakrobatik hat etwas, wovon die Welt mehr braucht: eine soziale Ader. Dieses Miteinander wird von klein auf vermittelt, auch die Fähigkeit, sich gegenseitig Schwächen und Fehler zu verzeihen.“

Von denen wollen die sächsischen Athleten in Polen natürlich wenig zeigen, auch wenn sie sich angesichts der starken Konkurrenz realistische Ziele stecken müssen. „Wir denken nicht an Medaillen“, sagt Björn Fünfstück, „aber das heißt nicht, dass wir nach dem Motto dorthin fahren: Dabei sein ist alles.“ Die Finals der besten Sechs zu erreichen, ist allemal der Anspruch.