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Der Kahn der fröhlichen Mädchen

Am 21. Dezember 1984 liegt das Motorschiff „Schönwalde“ im Hafen von Wismar und wartet auf den Rest der Besatzung.

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Denen, die schon an Bord sind, sieht man die Lust auf Seemannsweihnacht nicht an. In der warmen Messe nadelt die Fichte ihrer Zeit voraus, und nur die Proviantcontainer der Schiffsversorgung bringen mit lauter Backzeugs und Süßigkeiten etwas Vorfreude aufs Fest mit an Bord.

Rund 400 Kilometer südlicher, in einer Erdgeschoss-Altbauwohnung im sächsischen Waldheim, ist seit Tagen schon ganz stille Nacht. Immer dann, wenn Mami und Papi kaum noch reden, aber tapfer lächeln, wissen die Töchter: Bald ist es mal wieder soweit. Heute also ist „bald“. Die Koffer sind gepackt, die letzten Küsse getauscht, und eigentlich sollte ich es sein, der Trost spendet. Doch die Kinder sind schneller: „Wir wissen doch, Papi, nur wer wegfährt, kann auch wiederkommen. Deshalb musst du nun los. Damit du bald wieder bei uns bist.“

Am späten Abend trennt ein stählernes Ungetüm ohne Erbarmen die, denen das Schicksal anderes zugedacht hat als ein Beisammensein im Kerzenschein. Langsam verschwindet Kathrins nicht ganz fröhliches Winken im Dampf der Lokomotive. Sie weiß schon mehr als die Töchter: Bis „bald“ wird es drei Monate dauern, wenigstens. Am Morgen des 22. Dezember setze ich zur „Schönwalde“ über. Die zappelt seeklar an den Leinen. Heute noch muss sie los nach Arhus im Großen Belt. Alexandria wartet auf dänische Butter. Bis zum Abend kleckert der Rest der Crew aufs Schiff. Dem „Leinen los!“ und „Voll voraus!“ folgt ein lustloses Tuten des Schiffshorns als Abschiedsgruß hinüber ans Ufer. Dann geht auch der Lotse von Bord. Was bleibt, ist die Gewissheit: Wieder einmal wird Weihnacht auf See mehr stille Nacht als frohes Fest sein, bei Grußtelegramm, heimlichen Tränen und Hafenbräu. Auch der Seemann ist lieber bei der richtigen Braut und den Kindern.

Am 23. Dezember fällt der Anker auf der Reede von Arhus. Gleich darauf wird er wieder gehievt. Denn plötzlich ist alles anders. Der Kapitalismus hat ein Einsehen gehabt und die dänischen Stauer an ihr Streikrecht erinnert. Die rühren bis Neujahr nun keinen Finger. Das MS „Schönewalde“ wird zurück nach Wismar beordert. Dem Funker glüht bald die Taste, bei Rügenradio laufen die Fernschreiber heiß, und das Waldheimer Postamt schickt schnell einen Boten zur Altbauwohnung im fußkalten Erdgeschoß. Gleich darauf ist Stimmung in der Bude. „Wollt ihr mit zu Papi aufs Schiff?“ Mutti muss das Telegramm nicht lange vor den Nasen der Töchter schwenken.

Am Morgen des 24. Dezember bringt die Reichsbahn die drei hinauf in den Norden. Am Nachmittag erobern sie „fix und fertig“ Gangway, Kabine und Koje des Dritten Nautischen Offiziers. Doch schon am Abend sind sie wieder putzmunter. 20 Seeleute spielen jetzt Weihnachtsmann, ganz allein nur für sie. Später schickt St. Nikolai, die Kirche der Seefahrer, Glockengrüße zu uns herüber. Von der Brücke des Schiffes aus bestaunen die Töchter das weihnachtliche Wismar, den Hafen, den Mond und Mami mit Papi.

Am 28. Dezember ist die fröhliche Weihnacht vorbei. Nun ruft Kiel mit Butter aus Dänemark. Vom Bahnsteig aus winke ich meinen drei Frauen nach. Dampfend und fauchend ächzt der Zug schwerbeladen gen Sachsen. Zwar trägt er zwei federleicht glückliche Mädchen, doch die haben jede Menge Pappteller dabei, überrandvoll mit Weihnachtszeug, das für die Crew auf hoher See bestimmt gewesen war. Die Töchter haben jetzt ganz andere Sorgen als den Abschiedsschmerz: Alles muss bewacht, transportiert und letztlich verzehrt werden. An diesem Tag bringt die Bahn in den Süden, was dorthin gehört: Seemannsfamilie ohne Papi, Stollen aus Dresden, Pfefferkuchen aus Pulsnitz, Baumkuchen aus Schwarzenberg und Schokolade, Gummibärchen und Lakritz von woher auch immer, von allem aber zwanzig Mal! So schnell würde Weihnachten diesmal nicht vorbei sein.

Berndt Gückel, Hartha