Trotz Studium keine Chance in Deutschland?

Hoyerswerda. Es ist frühmorgens, als die Polizei an Farrukh Murad Bajwas Tür klopft. Er trägt noch die Klamotten vom Vortag, eine alte Jeans und ein Hemd. Bis spät in die Nacht hat er gelernt. In einer Woche steht noch eine Prüfung an, „Vertiefung Software Engineering“. Der letzte Schritt zum Bachelor in Wirtschaftsinformatik. Die IT-Branche sucht nach Fachkräften. Morgen steht ein Vorstellungsgespräch beim Landesamt für Schule und Bildung an: als Sachbearbeiter für Informations- und Kommunikationstechnik. Wäre da nicht die Polizei vor seiner Tür.
Es ist der 8. Februar, Farrukh Bajwa öffnet die Tür seines Zimmers in der Flüchtlingsunterkunft der Arbeiterwohlfahrt (Awo) Lausitz in Hoyerswerda. „Ich habe zuerst gedacht, dass es Beamte der Verwaltung sind, die prüfen wollen, ob ich die Sicherheitsbedingungen erfülle“, sagt er. Die IT-Branche sei da sensibel.
Doch die Polizei teilt ihm mit, dass er abgeschoben wird. Nach Pakistan, dorthin, von wo er 2013 geflohen ist.
Gibt 2013 seine IT-Firma auf und verlässt Pakistan
Der Fall von Farrukh Bajwa könnte bald die Gerichte beschäftigen. Der Sächsische Flüchtlingsrat kündigt an, möglicherweise rechtlich gegen die Abschiebung vorzugehen. Man warte noch auf die Einsicht in alle Dokumente. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl signalisiert, bei einem Prozess den Flüchtlingsrat finanziell zu unterstützen.
2013 hat Bajwa seine IT-Firma aufgegeben und Pakistan verlassen, er sei von Politikern bedroht worden, sagt er. 2015 kommt er in Hoyerswerda an, macht mehrere Sprachkurse, erreicht das Niveau B2. Nach einem Praktikum bietet ihm die Awo Lausitz ein Duales Studium an: Wirtschaftsinformatik an der staatlichen Berufsakademie Bautzen. Im Oktober 2018, er ist 32 Jahre alt, startet sein erstes Semester.
Wegbegleiter von Bajwa zeichnen das Bild eines zurückhaltenden Mannes, der sich vor allem aufs Studium konzentriert habe. „Er war immer beschäftigt“, heißt es zum Beispiel. Gearbeitet habe er in seinem Ausbildungsbetrieb weniger als vorgesehen, er habe die Zeit vor allem fürs Lernen genutzt.
„Er hatte eine große Chance auf dem Arbeitsmarkt“
Besuch bei der Awo Lausitz in Hoyerswerda; dort, wo Bajwa gelebt und gearbeitet hat. 400 Geflüchtete wohnen hier. Platz ist wenig. 21 Quadratmeter für zwei Personen. Bett, Blechschrank, Tisch und Stuhl – mehr steht in den Zimmern nicht. Löcher an den Wänden, von den Türen blättert der weiße Lack ab. Als das Landratsamt Bautzen vom Besuch von Sächsische.de erfährt, erteilt es ein Betretungsverbot.
Bajwa hatte ein Zimmer für sich und ein Zimmer zum Arbeiten. Dort sind noch die Überreste seiner Arbeit zu sehen: Verpackungen von Wlan-Verteilern. Die Geräte hatte er im Haus montiert. „Er hatte meiner Ansicht nach eine große Chance auf dem Arbeitsmarkt“, sagt Einrichtungsleiter Kevin Stanulla.
Ehrenamtlicher Deutschlehrer hilft beim Studium
Das Studium soll Ende September 2021 enden. Weil Bajwa zwei Prüfungen nicht besteht, studiert er ein Semester länger. In den vergangenen fünf Jahren haben drei Geflüchtete und Menschen mit Migrationshintergrund an der Berufsakademie Bautzen ein Studium abgeschlossen, wie das Sächsische Wissenschaftsministerium mitteilt. 16 haben eines angefangen.
Für seine Bachelorarbeit bekommt Bajwa die Note 3,5. Geholfen hat ihm Holger Roth, 79. Der richtige Name des ehrenamtlichen Deutschlehrers soll nicht in der Zeitung stehen. Er hat Angst vor Anfeindungen. „Farrukh hat immer drei Seiten geschrieben, und dann bin ich vorbeigekommen, und wir sind Satz für Satz durchgegangen.“ Manche Sätze haben keinen Sinn ergeben, sagt er. Roth und Bajwa haben viel diskutiert. „Ich war erstaunt, wie gut ein Ausländer die Technik in deutscher Sprache erklären konnte.“
Asylantrag wird Ende 2016 abgelehnt
Für die Abschlusspräsentation kaufen Roth und Bajwa zusammen einen Anzug, einen dunkelblauen mit Karomuster. Die graugestreifte Krawatte leiht ihm Roth. Bei der Präsentation ist der Deutschlehrer auch dabei. „Farrukh ist ein bisschen ängstlich gewesen. Er brauchte moralische Unterstützung. Allein wäre er da nicht hingefahren.“
Ende 2016 lehnt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) Bajwas Asylantrag schriftlich ab. In dem Bescheid wird er aufgefordert, Deutschland innerhalb einer Woche zu verlassen. Er sei vor Gericht gezogen, habe die Klage aber auf Anraten seines Anwalts später zurückgezogen, weil er mittlerweile sein Studium begonnen hatte. Er kann damit einen Antrag auf Ausbildungsduldung stellen.
Stellt Antrag auf Ausbildungsduldung
Das tut er auch im September 2020. Doch ihm fehlt der Reisepass. Den muss er erst noch bei der pakistanischen Botschaft beantragen. Ende April 2021 holt er den Pass ab. Wegen Problemen mit seinem Nachnamen habe sich die Bearbeitung hingezogen, sagt er. Dokumenten des Landratsamtes Bautzen zufolge gibt Bajwa den Pass am 13. Juli im Ausländeramt ab. Der Antrag auf Ausbildungsduldung ist zu dem Zeitpunkt noch gültig, wie das Landratsamt bestätigt. Es verweist auf Anfrage von Sächsische.de aber auf den nahenden Abschluss der Ausbildung in Regelstudienzeit. Zwischen Abgabe des Passes und dem Ende der Regelstudienzeit liegen zweieinhalb Monate.
Möglicherweise hat Bajwa versäumt, der Ausländerbehörde mitzuteilen, dass er zwei Prüfungen nicht bestanden hat und deswegen ein Semester länger studiert. Statt bis Ende September 2021 ist er nun bis Mitte 2022 eingeschrieben. Aber auch wenn sein Studium nur bis Ende September gegangen wäre, hätte Bajwa von einer Ausbildungsduldung profitiert, da ihm durch die sogenannte 3+2-Regelung laut Aufenthaltsgesetz nach Abschluss des Studiums wohl eine Aufenthaltserlaubnis für zwei weitere Jahre zustünde.
Ermöglicht die Abgabe des Passes erst die Abschiebung?
„Es wäre zu keiner weiteren Erteilung einer Ausbildungsduldung gekommen, da weitere Versagungsgründe vorlagen“, schreibt das Landratsamt. Welche das sind, sagt die Behörde nicht.
Was Farrukh Bajwa zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß: Durch das Abgeben seines Passes ermöglicht er wahrscheinlich erst seine Abschiebung. „Ohne gültigen Reisepass können in der Regel keine Personen abgeschoben werden“, erklärt Dave Schmidtke vom Sächsischen Flüchtlingsrat. Der Grund: Herkunftsstaaten lehnen ohne Pass oftmals das Rücknahmegesuch ab, da eine klare Zuordnung der Person nicht möglich ist.
Kurzgefasst heißt das: Nach dem negativen Asyl-Bescheid hätte Bajwa das Land verlassen müssen. Wie viele andere Geflüchtete blieb er und hoffte, nicht abgeschoben zu werden. Obwohl die Überprüfung seines Antrags auf Ausbildungsduldung noch lief, wurde er abgeschoben.
Polizisten bringen ihn zum Münchner Flughafen
Am 8. Februar stehen nun die Polizisten vor seiner Tür. „Je länger ich mit ihnen gesprochen habe, desto eiliger hatten sie es“, sagt Bajwa in einem der stundenlangen Videotelefonate, die er später mit Sächsische.de führt. „Wenn Sie nicht kooperieren, nehmen wir Sie fest“, hätten sie gesagt und mit Handschellen gedroht. Er habe dann seine Schuhe angezogen, Laptop, Portemonnaie, Handy und alle Unterlagen von seinem Schreibtisch in einen kleinen Rucksack gepackt.
Mit dem Polizeiauto ging es nach Dresden, dann zum Münchner Flughafen. Immer wieder habe er den Polizisten und den Personenbegleitern, welche die Abschiebung vollziehen, seine Situation erklärt, die Einladung zum Vorstellungsgespräch vorgezeigt. Zwischendurch telefoniert Bajwa mit dem Sächsischen Flüchtlingsrat und mit der Berufsakademie Bautzen. Die stellt ihm eine Studienbescheinigung aus, die er am Flughafen vorzeigt.
Geprüft wurden die Unterlagen nicht, wie sowohl das Sächsische Innenministerium als auch das Landratsamt Bautzen bestätigen.
„Mein Leben ist geschlossen“
„Ich war ganz im Koma, ich war total im Schock“, sagt Bajwa. „Ich wusste nicht, was ich machen soll, ich wollte mich nicht mit den Polizisten streiten.“ Sie haben ihm Essen gegeben, aber er konnte nichts essen. „Mein Leben ist geschlossen“, sagt er. „Ist Punkt jetzt!“
Er hat Angst, sagt Farrukh Bajwa und beschreibt seine Fluchtgeschichte: Von Pakistan ist er in den Iran geflohen, von dort in die Türkei, war im Gefängnis, hat auf der Straße geschlafen. Als er von der Türkei nach Griechenland flieht, sitzt er in einem Boot. „Kleines Schiff mit Luft.“ Nach einer Stunde kam Wasser rein. „Wir waren 50, 60 Leute. Frauen und Kinder dabei.“ Alle hätten angefangen zu weinen. „Wir waren in der Mitte vom Meer. Wir haben kein Land gesehen. Dieses Gefühl der Angst, das hatte ich auch wieder bei der Abschiebung.“
In Pakistan wohnt er bei seinem Bruder in Daska, 240 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Islamabad. Doch er sucht nach Jobs in Hoyerswerda und Umgebung. Am 11. Mai konnte er seine letzte Prüfung online nachholen. Eine 4,0 hat er bekommen. Bestanden. Auf seiner Bachelorurkunde prangt oben in Großbuchstaben: Freistaat Sachsen. Jener Freistaat, der ihn abgeschoben hat.
Auf WhatsApp hat er als Profilbild ein Zitat aus dem Koran: „Do not lose hope, nor be sad.“ Verliere nicht die Hoffnung und sei nicht traurig.