Bautzener bringt das Jahr 1990 auf 600 Seiten

Bautzen. Zweieinhalb Kilogramm wiegt das Jahr 1990. Ein dicker, überdimensionaler Band in Schwarz-Weiß mit dem Titel „Das Jahr 1990 freilegen“ liegt in den Händen von Jan Wenzel. Mit dem Buch setzen er und sein Leipziger Verlag die Zeit vor 30 Jahren fast kaleidoskopisch aus Fotografien, Tagebuchnotizen, Zeitungsausschnitten, Interviews und literarischen Geschichten zusammen.
„Man muss in die frühen 1990er-Jahre schauen, um zu verstehen, was gerade in Ostdeutschland der Stand der Dinge ist“, sagt der gebürtige Bautzener und legt das Werk in der Buchhandlung Kretschmer in Bautzen zurück ins Regal. Auch deshalb hat das Jahr 1990 für ihn ordentlich Gewicht.
Wehrdienst verweigert - ohne Folgen
„Inkubationszeit“ nennt Jan Wenzel den Entstehungsprozess dieses knapp 600 Seiten starken Zeitdokuments – und erinnert sich selbst an sein Jahr 1990. Der heute 48-Jährige wird im Stadtteil Gesundbrunnen groß, schon früh reizen ihn dicke Schmöker und unscheinbare antiquarische Titel. Er ist Stammkunde im Buchladen auf der Steinstraße. Die Literatur erlaubt Welten, die sich seinerzeit zum Teil nur erträumen lassen. Auch selbst fasst er seine Gedanken in Worte, fährt zu Poeten-Seminaren. Im Jahr der Wende geht es für den Jugendlichen an die Erweiterte Oberschule „Friedrich Schiller“. In jenem Herbst gerät seine Welt, wie die vieler anderer, aus den Fugen.
Zugleich öffnen sich gerade dieser Generation neue, ungeahnte Perspektiven der Freiheit. „Ein wichtiger Moment meines 1990 war, dass ich nicht zur Armee gehen musste. Für mich war klar, dass ich diese Gesellschaft nicht gut aushalten kann. Das war der Horror“, sagt der Leipziger. Bei der Musterung im März verweigert der Oberschüler kurz und knapp den Wehrdienst – ohne Folgen. Während sich für ihn das Leben gerade zum richtigen Zeitpunkt in die richtige Richtung verändert, merkt er zugleich, wie anderen der Boden unter den Füßen weggezogen wird.
Über zwei Jahre durch Archive gewühlt
Diesen bittersüßen Zweiklang stimmt „Das Jahr 1990 freilegen“ an und holt gleichzeitig Vergessenes hervor. „Das Jahr 1989 verdichtet sich auf wenige hochdramatische Wochen. 1990 ist dagegen wie ein großer Steinbruch“, sagt Jan Wenzel. Gemeinsam mit Markus Dreßen und Anne König gründet Jan Wenzel 2001 den Verlag Spector Books in Leipzig, der unter anderem 2018 den Sächsischen Verlagspreis und 2019 den Deutschen Verlagspreis erhielt. Für das jüngste Werk „Das Jahr 1990 freilegen“ gab es sowohl eine Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse 2020 als auch im September den Preis der Stiftung Buchkunst für das „Schönste Buch 2020“.
Jan Wenzel hat sich für die Text-Bild-Montage über zwei Jahre durch Literatur, Erinnerungen und Archive gewühlt. Sein Buch zeigt: Das Jahr 1990 lässt sich nicht auf einen Nenner bringen. Der Anfang klingt nach Aufbruchstimmung am Runden Tisch. Da geht es den Beteiligten um die demokratische Neuaufstellung ihres Landes. Gleichzeitig rät SPD-Vorsitzender Hans-Joachim Vogel den Ostdeutschen am 18. Januar 1990: „Bleiben Sie in Ihrer Heimat, wenn Sie nicht zwingende Gründe für Ihre Übersiedlung haben.“ Willkommen sind die Flüchtlinge aus dem Osten nicht. 20.000 Menschen, weiß Jan Wenzel aus seinen Recherchen, ziehen im Januar 1990 pro Woche in den Westen.
Bautzener Fotograf steuert Bilder bei
Zum Ansturm der Übersiedler erklärt eine Putzfrau aus dem Aufnahmelager in Gießen: „Also ich bin der Meinung, was vor dem 9. November kam, die hatten auch die Absicht zu arbeiten... Aber das, was jetzt läuft, ist nicht mehr schön... Dass sie uns ihren Dreck hinterlassen, und furchtbar frech sind sie – man kann nicht sagen, sie sind schmutzig, sie sind dreckig,“ lässt sie ihren Unmut über die Übersiedler aus. Zur gleichen Zeit besetzen Zuhausegebliebene die Stasi-Zentralen, wie Fotografien zeigen. Viele der Bilder, meist in Schwarz-Weiß, einige in Farbe, zeigt das Buch erstmals. Auch Arbeiten des Bautzener Fotografen Jürgen Matschie sind im Band.
Allein das Beispiel Januar zeigt, wie das Jahr bebt. Das Auf und Ab zwischen Hoffnung und Resignation setzt sich Monat für Monat fort. Anfang März gründet sich die Treuhand, „die blind ihre Aufgabe beginnt“, sagt der Buch-Macher. Der 18. März bringt einen neuen Wind. Bei der Volkskammer-Wahl wählt die Mehrheit die „Allianz für Deutschland“. Vom Geist der Zeit erzählen die Fotos mit den Pro-Helmut-Kohl-Spruchbändern wie „Helmut, nimm uns an die Hand, zeig uns den Weg ins Wirtschaftswunderland“.
Dem Hochglanz-Rausch folgt Ernüchterung
Der Wunsch wird gehört: Am 1. Juli folgt die Währungsunion mit langen Schlangen vor den Sparkassen – und am 3. Oktober die Wiedervereinigung. Lothar de Maiziere, letzter DDR-Ministerpräsident, sagt im Buch zu diesem Tag: „Bei mir war das Gefühl ambivalent. Ich war 50 Jahre alt, die DDR war quasi meine gesamte Biografie. Und jeder Neuanfang ist auch ein Abschied, es war ja viel Ungewissheit dabei, wie es weitergehen würde mit uns allen und welche Stelle wir haben werden“, wird der Christdemokrat zitiert. Dem D-Mark-Hochglanz-Rausch folgt die Ernüchterung.
Lange Bilderstrecken berichten vom Ende der Betriebe in der DDR, wie die Farbfotos aus den Kirow-Werken in Leipzig-Plagwitz, wo 90 Jahre lang Maschinen und Kräne produziert wurden. Ein Plakat in Schwarz-Rot-Gold verkündet „Wohlstand für alle“ an verlassenen Arbeitsplätzen. Die Werkzeuge sind einfach liegen geblieben. Auch das ist so ein Bruchstück für das Kaleidoskop, das das Jahr 1990 zu einem Ganzen zusammensetzt.
Für die grafische Gestaltung der Publikation hat sich der Verlag seinen langjährigen Begleiter Wolfgang Schwärzler an Bord geholt. Gemeinsam haben sie das Jahr 1990 freigelegt. „Wir sind durch vorherige Projekte aufeinander eingespielt. Nur in einer solchen Situation kann man diesen Marathon beginnen“, sagt Jan Wenzel. Für ihn ist es ein schönes Buch, das durch Grafikdesign und die Wahl des Papiers zu einem sprechenden Element wird, um damit noch einmal ganz anders Inhalte zu vermitteln.
Computerspiele und Studentenproteste
Einen anderen Blick auf die Zeit werfen im Geschicht(s)enbuch auch die 32 Betrachtungen von Alexander Kluge. Der Filmemacher und Schriftsteller spiegelt sein „So-könnte-es-auch-gewesen-sein“ mit der Realität.
30 Jahre nach der Wiedervereinigung und der intensiven Beschäftigung mit dieser Zeit weiß Jan Wenzel: „Es gibt keine einfache Erzählung über 1990.“ Zu Ende geht das Jahr im Dezember mit der ersten gemeinsamen Bundestagswahl im wiedervereinten Deutschland. Und was passiert noch? Zu Weihnachten ist der Spielcomputer im Taschenrechnerformat namens Gameboy der Verkaufshit, Kinder spielen auf einem vereisten Rasen in Corpußen bei Gera glücklich Eishockey, und an der Universität Leipzig protestieren die Studenten. Auch das gehört zum Kaleidoskop des Jahres 1990.
"Das Jahr 1990 freilegen", Spector Books Leipzig, ISBN 9783959053198, 36 Euro
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