Bautzen. Amtsrichter Ralf Nimphius hat die zwei Schriftstücke nebeneinander gelegt: ein Notizbuch des Angeklagten – und einen Brief, der im April 2018 an das Bautzener Jugendamt geschickt worden ist. „Das G ist ähnlich“, sagt der Richter beim Vergleich der Handschriften, „und das J, das A“, zählt er auf. Immer mehr Buchstaben nennt er, beschreibt Bögen und Linien, Gekrakeltes und Geschwungenes. Es wirkt nach Detektivarbeit, was er an diesem Dienstagmittag im Bautzener Amtsgericht treibt.
Es geht in dem Prozess um einen Mann aus Wilthen, der – so sieht es die Staatsanwaltschaft – jenen Brief verfasst oder zumindest initiiert haben soll, der an diesem Tag auf dem Richterpult liegt. Darin soll sich der 78-Jährige als Mädchen ausgegeben haben. Er, also sie, sei im Alter von elf Jahren von einem Mann vergewaltigt worden. Und bei einem Besuch im Jugendamt habe dieses Mädchen den Mann wiedergetroffen – und festgestellt, dass dieser dort arbeite. Unterschrieben ist der Brief mit den Worten: „Die Geschädigte“.
Angeklagter: "Der Brief stammt nicht von mir"
Gegen den Mitarbeiter des Jugendamts lief deshalb ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren, und auch dienstrechtliche Konsequenzen sind geprüft worden. Beides ist im Frühjahr 2020 fallengelassen worden. Denn: „Die Anschuldigung stimmte nicht“, ist der Staatsanwalt in dem Prozess überzeugt. Angeklagt wird der Wilthener deshalb wegen einer falschen Verdächtigung.
Vor Gericht wird der Mann nicht müde, die Taten zu leugnen. Der Brief stamme nicht von ihm, sagt er. Trotzdem erzählt er von einem Konflikt mit jenem Jugendamtsmitarbeiter.
Der Angeklagte sei trockener Alkoholiker – und helfe deshalb seit Jahren anderen Alkoholikern aus der Krankheit, erzählt er. So habe er eine Frau kennengelernt, die einen Sohn hat. Mit diesem Sohn habe er sich angefreundet, sei wie ein Großvater für ihn gewesen. Eine Zeit lang habe er mit der Frau und dem Kind zusammengewohnt, nur freundschaftlich.
Angeklagter und Jugendamtsmitarbeiter hatten Streit
Das Problem: Die Mutter habe wieder zu trinken begonnen – und es gab Schwierigkeiten mit dem Jugendamt. Das Kind sei in Obhut genommen worden, erzählt er. Und das, obwohl er den Jungen zu sich nehmen wollte.
Von einem Streit dazu berichtet auch der Jugendamtsmitarbeiter, der als Zeuge geladen ist. „Es gab ein aggressives Gespräch“, sagt er. Der Angeklagte habe gerufen: „Ihr werdet noch sehen, was ihr davon habt“, erzählt der Mitarbeiter.
Ins Bild passt auch die Aussage der Mutter des Jungen vor der Polizei. Die liest Ralf Nimphius vor. Zu der Mutter selbst konnte das Gericht keinen Kontakt aufnehmen. Aber gegenüber der Polizei habe die Frau gesagt, dass ihr der Angeklagte von dem Plan berichtet habe, einen Brief mit dem Vergewaltigungsvorwurf an das Jugendamt zu schicken.
Ein Urteil ist noch nicht gefallen
Und doch: Eine Sache passt nicht so ganz ins Bild, und das ist die Schrift. „Was gegen Sie spricht, ist Ihr Notizbuch. Das ist dieselbe Handschrift wie im Brief“, sagt zwar Amtsrichter Ralf Nimphius. Dennoch: „Die Sätze habe nicht ich ins Buch geschrieben“, sagt der Angeklagte.
Und tatsächlich scheinen sich unterschiedliche Schriftarten in dem Buch wiederzufinden. Der Angeklagte berichtet von einem Mann, der ihm eine Weile geholfen habe – und der Zugang zu seiner Wohnung gehabt habe. Der soll der Vater des Kindes sein, aber wenig Interesse an dem Jungen gezeigt haben.
Ihn und noch ein paar andere will das Gericht befragen, bevor es ein Urteil fällt. Im Februar wird weiterverhandelt.
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