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"Unser Trauma geht nicht einfach so weg"

Eine Ukrainerin hilft geflüchteten Frauen in Bautzen, ihre Kriegserlebnisse durch Tanzen zu verarbeiten. Bei diesem Kurs ist sie Coach und Teilnehmerin zugleich.

Von Tim Ruben Weimer
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Choreographin Yana Gumenna gibt im Bautzener Thespis-Zentrum Tanzkurse für geflüchtete Frauen. Sie ist selbst vor dem Krieg in der Ukraine geflohen.
Choreographin Yana Gumenna gibt im Bautzener Thespis-Zentrum Tanzkurse für geflüchtete Frauen. Sie ist selbst vor dem Krieg in der Ukraine geflohen. © SZ/Uwe Soeder

Bautzen. Yana Gumenna gleitet über den Parkettboden. Vorbei an dem fünf- oder sechsjährigen Mädchen, das gerade wie beseelt durch den Raum läuft, dessen helle Fenster hinaus zur Goschwitzstraße zeigen. Vorbei an der jungen Frau, die Ballerina-Figuren tanzt und dabei die Augen fest geschlossen hält. Vorbei an dem Mädchen im Teenageralter, das einfach nur in sich gekehrt auf dem Boden sitzt, während die anderen Frauen in eleganten Bewegungen um sie herum tanzen, jede für sich.

Yanas Blick schaut ernst und verbissen in den Raum, ihre Augen wirken müde, ihre Mimik ausdruckslos. Blickt sie dagegen in das Gesicht einer ihrer Tänzerinnen, breitet sich wie auf Knopfdruck ein großes Lächeln in ihrem Gesicht aus. Wenn sie auf Russisch Anweisungen gibt, klingt sie bestimmt und selbstbewusst, mit den Armen malt sie langsam große Bewegungen in die Luft. Als sie später über ihre Flucht spricht, kullern ihr Tränen in die Augen.

"Mein Körper gehört mir nicht mehr"

Keine zwei Monate ist die 35-jährige Mutter von zwei Kindern in Deutschland. Geflüchtet wie viele andere Ukrainer aus ihrer Heimatstadt Tschernowitz im Südwesten der Ukraine über Rumänien, Ungarn, Slowakei, Tschechien, Polen, nach Deutschland. Nun gibt sie im soziotheatralen Thespis-Zentrum in Bautzen einen Tanzkurs für Geflüchtete. Die Idee dazu habe Bautzens Theaterintendant Lutz Hillmann gehabt.

Doch eigentlich ist es kein Tanzkurs. "Ich will meinen Körper wieder spüren", sagt Yana Gumenna. "Als ich nach Deutschland kam, habe ich die Verbindung zu meinem Körper verloren. Ich fühle ihn nicht mehr, er gehört nicht mehr mir."

"Den Körper in der neuen Umgebung erkunden": Die Übungen dienen dazu, die Beziehung zum eigenen Körper wiederherzustellen, die bei der Flucht verloren gegangen ist.
"Den Körper in der neuen Umgebung erkunden": Die Übungen dienen dazu, die Beziehung zum eigenen Körper wiederherzustellen, die bei der Flucht verloren gegangen ist. © SZ/Uwe Soeder

Yana Gumenna wohnt mit ihrer 16-jährigen Tochter und ihrem zehnjährigen Sohn bei einer Gastfamilie in Bautzen. Als einmal die Türklingel laut schrillte, brachte sie über den Tag keinen Ton mehr heraus. Ähnliches passiert, wenn Flugzeuge, Autos oder andere laute Geräusche sie unter Schock setzen. Als vorm Haus ein Anhänger entladen wurde und es laut knallte, überlegte sie, wohin sie am besten rennen könnte, um sich zu verstecken.

Imaginäre Bomben explodieren auch hier

"Es ist für mich sehr kostbar, ohne Explosionen aufzuwachen und in Ruhe einen Kaffee trinken zu können", sagt sie. Doch in ihrem Kopf existieren Bomben und Zerstörung weiterhin, nachts wacht sie häufig von geträumten Explosionen auf. Während ihre Tochter den ukrainischen Online-Unterricht besucht und ihr Sohn in eine Bautzener Grundschule geht, räumt sie das Haus auf oder arbeitet im Garten ihrer Gastfamilie. "Den Krieg kann ich nicht aufhalten", sagt sie, "aber diese kleinen Tätigkeiten, die kann man beeinflussen."

Genauso diene auch der Tanzkurs dazu, sich und die Teilnehmer zu "erden". Aus Yanas Lautsprecher ertönt leise Klaviermusik, die mit der Zeit in orchestrale Klänge übergeht. Immer mal wieder rutscht jemand auf dem Parkettboden aus. Gelacht wird darüber nicht, nur gelächelt.

Heute sind fast nur Ukrainerinnen da, die Irakerinnen, Kurdinnen und Syrerinnen feiern Ramadan. Ausschließlich Frauen, Männer sind hier nicht erwünscht. "Wäre ein Mann dabei, wäre es nicht dasselbe", sagt Yana. Inzwischen haben alle Tänzerinnen die Augen zu, während sie mit großen Bewegungen in die Luft greifen. Nur das gelegentliche Knacken des Bodens übertönt die Musik.

"Wir müssen uns in einer neuen Welt zurechtfinden"

Yana ist Choreographin und Tanz-Pädagogin, in Kiew leitet sie in Zusammenarbeit unter anderem mit dem Goethe-Institut und dem Auswärtigen Amt ein Zentrum für darstellerische Bildung, das in Krisenregionen wie der Ostukraine Theater-Projekte initiierte. Nun ist ihre Heimat selbst zur Krisenregion geworden, und bei ihrem Bautzener Projekt ist sie gleichzeitig Coach und Teilnehmerin. "Wir müssen uns hier in einer neuen Welt zurechtfinden", sagt sie. An ihr eigentlich längst bekannten Orten verliert sie gelegentlich die Orientierung, bekommt eine Panikattacke.

"Für mich ist es jetzt sehr wichtig, meinen Körper in dieser neuen Umgebung zu erkunden." Mal stellen sich die Teilnehmerinnen vor, mit ihren Händen das Universum zu bewegen, mal ist es die Erde, die ihre Gliedmaßen führt. "Unser Trauma geht nicht einfach so weg, aber wir versuchen, es mit den Übungen zu kompensieren", sagt Yana. Dabei soll die Schönheit des Körpers in den Bewegungen ausgedrückt werden.

Doch immer wieder würden Teilnehmerinnen zurück in ihre Traumatisierung fallen. Dann erscheinen sie einfach nicht zum Kurs, sagt Yana. Doch ohne Kompensierung habe man es noch schwerer.

"Ich selbst fühle mich wie eine Verräterin", sagt sie. Ihre Schwester, ihr Mann und ihre 13-jährige Nichte sind alle noch in der Ukraine und verstecken sich im Keller. "Irgendwie werde ich sie schon holen", sagt Yana Gumenna. Dann zieht sich ihr Mund zusammen, ihr Gesicht schneidet eine traurige Grimasse und sie blickt hinaus zum Fenster. "Aber eigentlich will ich nur zurück in die Ukraine."