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Begehrte Backstuben

Ältere Görlitzer erinnern sich mit Wehmut an das Bäckerhandwerk. Denn „richtige Bäcker“ werden weniger.

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© Kitte / Schlegel / Hanke / Sammlung Schermann

Von Ralph Schermann

Unser Bäcker! Fast jeder ältere Görlitzer sprach so, als ob der Backexperte an der Ecke ihm gehörte. Diese Formulierung indes war mit Bedacht gewählt, kennzeichnete eine Zusammengehörigkeit im Wohnviertel. Sicher gibt es auch heute ein ausreichendes Netz an Backwarenverkaufsstellen, doch der originale Bäckermeister mit eigener Backstube ist seit der Wende noch seltener geworden, als ihn Konsum- und andere Großbäckereien zuvor je verdrängen konnten. Mancher erinnert sich heute ob oft austauschbarer Backshop-Aufbäcker wieder an Bewährtes, an die alles andere als pappigen oder luftaufgepumpten Brötchen sowieso. Aber auch die nötigen Handwerker dafür werden seltener. Wer will schon noch früh um 3 Uhr aufstehen?

Auf der Hartmannstraße 13 war die Bäckerei Tschanter einst nicht zu übersehen – nämlich an den langen Warteschlangen. Tschanters Brot und vor allem die Semmeln waren legendär und begehrt.
Auf der Hartmannstraße 13 war die Bäckerei Tschanter einst nicht zu übersehen – nämlich an den langen Warteschlangen. Tschanters Brot und vor allem die Semmeln waren legendär und begehrt. © Kitte / Schlegel / Hanke / Sammlung Schermann
Selma Haase übernahm nach dem Tod ihres Mannes die Bäckerei Peterstraße.
Selma Haase übernahm nach dem Tod ihres Mannes die Bäckerei Peterstraße. © Kitte / Schlegel / Hanke / Sammlung Schermann
Heinz-Ulrich Rißmann (1983) hatte seine Backstube auf der Rauschwalder Straße 20.
Heinz-Ulrich Rißmann (1983) hatte seine Backstube auf der Rauschwalder Straße 20. © Kitte / Schlegel / Hanke / Sammlung Schermann
Bei Werner Tschirch war Sohn Michael einst Geselle (1986). Längst ist er selbst Meister.
Bei Werner Tschirch war Sohn Michael einst Geselle (1986). Längst ist er selbst Meister. © Kitte / Schlegel / Hanke / Sammlung Schermann
Meister Peter Simon half Gattin Ingeborg (1984, Bismarckstraße 30).
Meister Peter Simon half Gattin Ingeborg (1984, Bismarckstraße 30). © Kitte / Schlegel / Hanke / Sammlung Schermann

Unser Bäcker! Das war ein kleines Geschäft mit Namen, die man in der ganzen Stadt kannte. Der Seliger-Bäcker am Untermarkt hatte die besten Prasselkuchen der gesamten Oberlausitz, beim Biesnitzer Raschke-Bäcker gab es legendäre Schrotbrötchen, der Lange-Bäcker auf der Wielandstraße war Inbegriff schmackhaftester Martinshörnchen – von den Nusstörtchen der Konditorei Gasde, später Kretschmar am Bahnhof ganz zu schweigen. Zu Meister Schober fuhren Generationen Innenstädter nach Weinhübel, Arndt Borrmann auf der Weberstraße war Kult. Manche Namen hatten es aber schwer. Wo der „Popel-Bäcker“ zu finden war, wussten in den 1970er Jahren viele, die diesem Laden eine gewisse Unsauberkeit unterstellten. Und jeder Brötchen-Bäcker konnte sich einst rühmen, eines mit der Vergabe von Autowerkstattterminen oder Weststar-Stadthallen-Karten gemeinsam zu haben: die Warteschlangen.

Unser Bäcker! Hans-Joachim Haase war so einer, wie die meisten von der Pike auf. Kein Wunder, wurde er doch 1931 in einen funktionierenden Backbetrieb hineingeboren. Die Bäckerei Haase hatte sein Vater ein Jahr zuvor auf der Peter-/Ecke Nikolaistraße übernommen. Ein Jahr nach der Geburt seines Sohnes starb er. Von 1932 bis Anfang der 1960er Jahre leitete seine Mutter Selma dann die dortige Haase-Bäckerei und beschäftigte in der Backstube einen Meister als Angestellten. Sohn Hans-Joachim arbeitete nie im mütterlichen Betrieb. Dennoch fand er in dieser Branche seinen Beruf. Konditor wollte er werden, feine Torten kreieren – und buk dennoch „nur“ Brot und Brötchen. Er trat in einer Zeit die Lehre an, die nur reine Arbeiterkinder zu höherem rief. Bald wurde das nicht mehr so eng gesehen, und Hans-Joachim konnte auf Konditor umschulen.

Unser Bäcker! Am Anfang Haases Lehre stand Artur Jaeschke, der ihm das beibrachte, was er vielleicht aus dem Familienhaus schon etwas wusste. Die harte Zeit, ohne so ausgereifte Maschinen und Öfen wie heute, ließ Bäcker noch echte Handwerker sein. Der Jaeschke-Bäcker auf der Krölstraße war beliebt im Karree. Später ließ Meister Koehler den Haase-Sohn an Torten und Windbeutel. Die Konditorei Koehler auf der Berliner Straße 29 (neben dem Capitol) war einer der großen Görlitzer Kaffeehaus-Betriebe. Später vertiefte der Lernende sein Können im Café Gerber, in dem man ob seiner begehrten kleinen Gebäckstücke auf der Steinstraße 12 kaum einen Platz bekam. Auch auf der Schützenstraße gab es gleich zwei solche begehrten Cafés.

Unser Bäcker! Der Haase-Bäcker hatte von 1968 bis 1994 sein eigenes Geschäft am Sechsstädteplatz. Zeitweise waren bis zu vier weitere Bäckereien im direkten Umfeld zu finden, doch bei Haase war immer Hochbetrieb. Vormittags gingen rasant die Semmeln weg, nachmittags überzeugte der Konditor. Vor allem seiner exzellenten Seezungen wegen kamen die Kunden von weit her. Das Rezept für die nicht zu schwere, aber auch nicht zu puddinghafte Buttercreme wurde bisher in und um Görlitz nie wieder erreicht. Meister Haase hat es keinem verraten, es aber auch keinem Angehörigen weitergegeben. So wie Hans-Ulrich viel von Vater Herbert Tschanter übernehmen konnte oder Michael Tschirch von Vater Werner. Auch die Wittigs, Karsubkes, Bräsels mit ihren Streuselkuchen und mancher hier nicht Genannte haben noch Geheimnisse in den Backstuben. Dorthin kommt zwar kein Kunde mehr, um eigene Bleche abbacken zu lassen, auch haben Kinder in den Läden keine Chancen mehr, um wie einst nach „Kuchenrändeln“ zu betteln. Manches gibt es eben nicht mehr. Richtige Bäcker hoffentlich noch lange.