Herr Kugler, Einrichtungen wie Advita in Riesa umgehen das Heimgesetz, indem sich die Bewohner bei einer Tochterfirma in Demenz-WGs einmieten. Stellt dieses Konstrukt aus Ihrer Sicht ein Problem dar?

Nicht zwangsläufig. Da muss ich aber etwas weiter ausholen.
Nur zu.
Das Heim ist eine besondere Wohnform für Menschen, die nicht mehr selbstbestimmt leben wollen oder können. Das hat auch rechtliche Folgen. Dem Heim übertrage ich per Vertrag, Entscheidungen in meinem Namen zu treffen. Sie bestimmen im Heim etwa auch nicht mehr selbst über ihr Geld. Daher dürfen Anbieter einem Heimbewohner zum Beispiel keine kostenpflichtigen Angebote machen – wie zum Beispiel einen extra Kuchen für drei Euro am Sonntagnachmittag. Im Heim unterwirft man sich der Heimordnung. Da kann ich auch nicht sagen: Heute will ich aber erst um 11 Uhr frühstücken. Im Heim gibt es das Essen zu festgelegten Zeiten. Man gibt dort Selbstbestimmung ab. Für die Angehörigen hat das den Vorteil, dass sie nicht bei jeder Entscheidung zurate gezogen werden. Eine Pflege-WG ist rechtlich etwas völlig anderes. Dort leben freie Menschen, die ihre eigenen Entscheidungen treffen. Sie entscheiden selbst, ob sie das Mittagessenangebot im Haus jeden Tag oder vielleicht nur zweimal in der Woche wahrnehmen und sich sonst selbst versorgen. So weit die Theorie.
Wie sieht es in der Praxis aus?
In der Praxis kommt es vor, dass dauerhaft vollpflegebedürftige Menschen in sogenannten Pflege-WGs leben. In diesem Fall dürfte aus meiner Sicht nur noch das Pflegeheim in Betracht kommen. Wenn Menschen nicht mehr selbst handlungsfähig sind, bewegen sich die Anbieter dieser Wohnform in einer rechtlichen Grauzone. In einer Pflege-WG dürften Sie den Bewohnern ohne Weiteres etwas „andrehen“ und in einzelnen Fällen wird das auch ausgenutzt. Als Angehöriger muss ich mich dann um alles kümmern, wenn meine Mutter oder Vater die Entscheidungen nicht mehr selbst treffen kann. Das sollte einem bewusst sein, wenn man einen Pflegeplatz aussucht. Das Heimgesetz wurde nicht ohne Grund ins Leben gerufen. Es ist dafür da, Mensch zu schützen, die eben nicht mehr Herr ihrer Sinne sind. Die Pflegeheime werden regelmäßig kontrolliert. Es gibt hohe Anforderungen an die Hygiene, es muss ausgebildetes Fachpersonal da sein. All das ist bei Pflege-WGs nicht gewährleistet. Dort gibt es keine Kontrollen. Da kauft man die sprichwörtliche Katze im Sack. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen kontrolliert höchstens den ambulanten Pflegedienst, der sich um die Bewohner dort kümmert. Für die Anbieter ist das natürlich bequemer, als sich dem Heimgesetz zu unterwerfen. Dennoch haben auch Pflege-WGs ihre Berechtigung.
In welchem Fall?
In dem Fall, in dem Sie sich nicht mehr zutrauen, allein zu leben, aber immer noch fit genug sind für ein stationäres Pflegeheim. Da ist es doch besser in eine Pflege-WG zu ziehen, als allein in einer Drei-Zimmer-Wohnung zu sitzen, die man früher vielleicht mit Partner und zwei Kindern bewohnt hat – mit einem Badezimmer, das so eng ist, dass man mit keinem Rollator hinein kommt. Allerdings sollte man dann rechtzeitig die Reißleine ziehen, wenn sich der Zustand verschlechtert. Leider passiert das oft recht schnell. Den Einrichtungen ist daran gelegen, dass Bewohner möglichst schnell die Selbstständigkeit verlieren, weil sie dann mehr abrechnen können. Da liegt der Fehler im System. Das kann man aber sowohl in Heimen als auch in anderen Wohnformen beobachten.
Was müsste getan werden, um zu verhindern, dass Menschen in Pflege-WGs leben, die in ein Heim gehören?
Die Angehörigen müssen sich in den Einrichtungen umsehen. Eine Hochglanzbroschüre kann niemals den eigenen Eindruck ersetzen. Dann sollte man sich die Verträge genau ansehen, damit Sie für einen Platz in einer Pflege-WG keinen Knebelvertrag unterschreiben. Eine lange Kündigungsfrist wäre wohl eher ungünstig. Denn wenn sich der Gesundheitszustand dramatisch verschlechtert, sollte man mit dem Umzug in ein Pflegeheim nicht warten. (SZ)