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Das Corona-Trauma von Bergamo

In der italienischen Provinz hat fast jeder Verwandte oder Freunde verloren. Wie gehen die Menschen dort damit um? Betroffene erzählen.

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Bilder des Schreckens: Särge aus der Gegend von Bergamo wurden mit Militärtransportern in andere Gegenden gebracht.
Bilder des Schreckens: Särge aus der Gegend von Bergamo wurden mit Militärtransportern in andere Gegenden gebracht. © Claudio Furlan/LaPresse/AP/dpa

Von Alvise Armellini

Bergamo. Der Tod ist sein Geschäft. Nicolas Facheris ist Direktor eines Bestattungsinstituts. Die Corona-Pandemie in seiner italienischen Heimat war aber selbst für ihn zu viel. Der 29-Jährige kommt aus Bergamo, der Provinz, die zum Inbegriff einer aus der Kontrolle geratenen Epidemie mit vielen Toten und furchtbaren Bildern geworden ist. "Wuhan Italiens" nennen einige die Provinz nordöstlich der Millionenstadt Mailand.

"Ich hatte innerhalb von nur 20 Tagen so viel Arbeit, wie sonst in zwei Jahren", erzählt Facheris. Normalerweise, sagt er, gibt es in seiner Kleinstadt Madone weniger als 30 Todesfälle pro Jahr. In diesem Jahr war es anders: "Allein im Monat März hatten wir 34 Tote." Es war auch der Monat, in dem Facheris in keiner Nacht mehr als drei Stunden schlief.

Bestatter Nicolas Facheris erlebte die Corona-Krise in Bergamo hautnah mit.
Bestatter Nicolas Facheris erlebte die Corona-Krise in Bergamo hautnah mit. © dpa/Alvise Armellini

Den Frühling verbrachte er damit, zwischen Krankenhäusern, Pflegeheimen, Privatwohnungen und Friedhöfen hin und her zu fahren. Die Toten musste er selbst beerdigen, da die Friedhofsarbeiter zu dieser Zeit in Quarantäne waren. "Es gab niemanden, der die Arbeit erledigen konnte, also schritten wir und das andere Bestattungsunternehmen der Stadt ein." Auf dem Friedhof habe man ihnen irgendwann einfach die Schlüssel in die Hand gedrückt.

Das Schlimmste war, Hinterbliebene zu raschen Entscheidungen drängen zu müssen: Per WhatsApp mussten sie Särge wählen und entscheiden, ob ihre Angehörigen beerdigt oder eingeäschert werden sollten. "Dieses Trauma wird mich ein Leben lang begleiten", sagt Facheris. "Immer noch rufen mich Leute an und fragen: "War Mama richtig angezogen? War ihr Haar frisiert? Stimmt es, dass sie in eine Tüte gesteckt wurde?""

Auch Sergio Solivani, der als Freiwilliger für das Rote Kreuz arbeitet, und Pfarrer Mario Carminati waren rund um Bergamo im Einsatz. Pater Carminati ließ in der Stadt Seriate kurzerhand Särge in einer Kirche lagern, da im Krematorium kein Platz mehr war. 270 Tote segnete er in dieser dunklen Zeit. "Wenn Sie mich fragten, wie das Wetter zwischen Februar und Juni war, könnte ich nicht sagen, ob es geregnet oder geschneit hat, ob es schön war oder nicht. Ich habe in einer Blase gelebt."

Sergio Solivani sah sich während der Corona-Pandemie täglich mit Entscheidungen über Leben und Tod konfrontiert
Sergio Solivani sah sich während der Corona-Pandemie täglich mit Entscheidungen über Leben und Tod konfrontiert © dpa/Alvise Armellini

Während Pater Carminati damit beschäftigt war, Beerdigungen zu organisieren und Anrufe von verzweifelten Gemeindemitgliedern anzunehmen, traf der 21 Jahre alte Solivani beim Roten Kreuz Entscheidungen über Leben und Tod. Als Sanitäter war er Teil eines Teams, das beurteilte, ob Patienten mit dem Rettungswagen in ein Krankenhaus gebracht werden oder nicht. "Als ich abends nach Hause kam, fragte ich mich: Hätten wir mehr für diesen Menschen tun können?" Gedanken wie diese quälten den Philosophiestudenten. Erst ein Psychologe konnte ihm helfen, mit den Schuldgefühlen umzugehen.

Pfarrer Mario Carminati öffnete eine Kirche, um darin Platz für Särge zu schaffen.
Pfarrer Mario Carminati öffnete eine Kirche, um darin Platz für Särge zu schaffen. © dpa/Alvise Armellini

Im größten Krankenhaus von Bergamo, Papa Giovanni XXIII., sorgt sich Psychotherapeutin Chiara Bignamini um die mentale Gesundheit der Ärzte, Pfleger und Sanitäter. Sie organisiert Gesprächsrunden. "In Notfällen oder traumatischen Situationen schaltet sich in unserem Gehirn das Sprachzentrum aus", erklärt sie. Denn dann müsse es sich auf mögliche Gefahren konzentrieren. "Während wir Erfahrungen machen, haben wir also Schwierigkeiten, darüber zu sprechen, denn uns fehlen die Worte." Die Gesprächsrunden sollen bei der Verarbeitung helfen.

Ärztin Chiara Bignamini setzt sich in Corona-Zeiten für die Prävention posttraumatischer Belastungsstörungen beim Krankenhauspersonal ein. (zu dpa Corona in Bergamo: «Dieses Trauma wird mich ein Leben lang begleiten») Foto: +++ dpa-Bildfunk +++
Ärztin Chiara Bignamini setzt sich in Corona-Zeiten für die Prävention posttraumatischer Belastungsstörungen beim Krankenhauspersonal ein. (zu dpa Corona in Bergamo: «Dieses Trauma wird mich ein Leben lang begleiten») Foto: +++ dpa-Bildfunk +++ © dpa/Alvise Armellini

Nicht allen gelingt es, zu sprechen. "Ich habe meinen Vater und drei Tanten verloren", sagt Armando Persico, Bildungsexperte aus Albino. Auseinandersetzen will er sich damit nicht. "Für mich gibt es diese Zeit nicht." Sein Leben habe im Februar geendet und erst im Mai wieder begonnen, nachdem Bergamos dunkelste Tage überstanden waren. Persico will weitermachen. 

Armando Persico hat seinen Vater und drei Tanten während der Corona-Pandemie verloren.
Armando Persico hat seinen Vater und drei Tanten während der Corona-Pandemie verloren. © dpa/Alvise Armellini

Facheris, dem Bestattungsunternehmer, bleibt beim Blick in die Zukunft nur Hoffnung. "Sie sagen immer wieder, dass dieses Ding im September oder Oktober zurückkehren könnte. Ich hoffe aufrichtig, dass das nicht der Fall sein wird."

So berichten wir über die Corona-Krise: