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Biss zum Morgengrauen

Dürrröhrsdorfer Fleischer im Wienerstress: Noch vor Sonnenaufgang stellen sie tonnenweise Weihnachtswürstel her.

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© Marko Förster

Von Jörg Stock

Dürrröhrsdorf. Dynamik in Dürrröhrsdorf: Kunstlicht flutet den Asphalt, Laster docken an Ladeschleusen, Motoren brummen, Fahrer geben Gas. Fahrzeug auf Fahrzeug rollt vom Hof hinaus ins dunkle Land. Auf einer Bordwand prangt das Bildnis eines kleinen Mädchens, das in ein Wiener Würstchen beißt. „Geschmack zum Genießen“, steht darunter. Wiener hat die Lasterflotte tonnenweise geladen. Sie zu essen mag Genuss sein. Sie zu machen weniger. Es ist ein harter Job, nichts für Schlafmützen. Die Uhr zeigt zwei Minuten vor fünf. Bei den Dürrröhrsdorfer Fleisch- und Wurstwaren ist der Wienerstress ausgebrochen. Planmäßig. Je näher das Weihnachtsfest rückt, sagt Philipp Winters, Assistent des Chefs und zuständig für den Vertrieb, umso stärker steigt die Kurve des Würstchenverbrauchs. Die Fleischer reagieren. Was sie sonst pro Woche an Wienern fertigen, das produzieren sie ab Mitte Dezember täglich. Bis Heiligabend stellen sie so rund 25 Tonnen Wiener her. Das sind, grob gerechnet, um die 450 000 Stück.

Die Zutaten, Fett und Fleisch, …
Die Zutaten, Fett und Fleisch, … © Marko Förster
… sowie Gewürze vermengt Marco Schreier im Kutter.
… sowie Gewürze vermengt Marco Schreier im Kutter. © Marko Förster
Die geheime Würzmischung stellt Karina Boden zusammen.
Die geheime Würzmischung stellt Karina Boden zusammen. © Marko Förster
In der Füllerei wird das Brät in Schafsdärme gedrückt, portioniert und aufgehängt.
In der Füllerei wird das Brät in Schafsdärme gedrückt, portioniert und aufgehängt. © Marko Förster

Desinfiziert und mit Kopfhaube geht es in die Produktion. „Den Messern aus dem Weg gehen!“, rät Herr Winters. Lange Gänge, große Schwingtüren, ein breiter Tisch, an dem viele Fleischer mit vielen Messern hantieren. Hier wird der Rohstoff, angeliefert ab halb zwei Uhr morgens, zerlegt. Frische ist oberstes Gebot. Zum Teil kommt das Fleisch noch schlachtwarm hier an. Die Kutterei ist angefüllt mit metallischem Getöse. Der Fleischwolf macht das Grobe, der Kutter die Feinarbeit. Kübel mit Fleischmus und Fett stehen bereit, um von Kuttermeister Marco Schreier in den gigantischen Mixer befördert zu werden, der das Brät, also die Wienerfüllung, produziert. Seit zwei Uhr ist Herr Schreier hier im Einsatz. 250 Kilo schwer ist jede Brätladung. Bis zu vierzig schafft er pro Schicht.

Gerade ist eine Mischung für Chili-Wiener dran. Die Greifer der Hebevorrichtung fassen den Bottich mit gewolftem Fleisch und kippen ihn in die Kutterschüssel. Dazu kommen Gewürze und „Scherbeneis“, das wirklich aussieht wie zerbrochenes Fensterglas. Eis bringt der Mischung das nötige Wasser und kühlt sie zugleich ab. Das Kuttern erzeugt Wärme. Fünfzig Grad herrschen an den Messerspitzen. Ohne Eis würde die Masse an Konsistenz verlieren, der Biss des Würstchens würde leiden.

Hinterm Kutter führt eine Pforte zum größten Gewürzregal des Landstrichs: Bis zur Decke reichen die Kisten mit Paprika und Muskat, Senfkörnern und Käsepulver, Knoblauch und Chiliflocken. Etwa 120 Gewürzsorten lagern hier. Die kleinste Packung wiegt ein halbes Kilo, die größte ist ein hüfthohes Fass Pulsnitzer Lebkuchen, nötig für die Pfefferkuchenbratwurst. Karina Boden ist die Herrin der Gewürzkammer. Über Treppenstufen und Leitersprossen turnt die kleine Frau auf und ab, um in Plaste-Eimern Zutaten zu mischen, die der Computer ansagt. Und was kommt in die Wiener rein? Frau Boden lächelt und schweigt. Sie ist Geheimnisträgerin. „Von mir dringt nichts nach draußen.“ Nur so viel: Die klassische Wienerwürzmischung enthält sieben bis acht Komponenten. Fürs Zusammenstellen braucht Frau Boden keine fünf Minuten. Die richtigen Tüten würde sie sogar im Dunkeln finden.

Der Kutter hat nun auch das Fett in den Brei gemengt. Die lachsfarbene Masse wird einen Raum weiter befördert in die Füllerei. Dort steht die Maschine, die aus dem Brät Würste macht. Schafsdarm um Schafsdarm greift sich Fleischermeister Roberto Pusch aus einem Wasserbad, fädelt die Pellen über die Tülle, betätigt einen Mechanismus und – Ssssst! – sind fünfzig, sechzig Wiener gefüllt, portioniert und aufgehängt. Hier kommt es auf Timing an und auf Übersicht. „Das ist nicht bloß Knöpfchendrücken“, sagt Meister Pusch. Pro Stunde lässt er an die 350 Kilo Fleischbrei durch seine Maschine schießen, rund 6 300 Wiener kommen dabei hinten raus. In die Räucherei. Zwölf Kammern hat Dürrröhrsdorfer parat, um die Würste zu trocknen und mit dem Dunst glühender Buchenholzspäne zu behandeln. Durch bullaugenartige Fenster lässt sich der Vorgang verfolgen. Karl Käppler, Vizeproduktionsleiter, öffnet demonstrationsweise eins der Bullaugen. Sofort steigt würziger Nebel in den Raum. Das Räuchern macht die Würste haltbar, sagt er, gibt Geschmack und Farbe, möglichst die von altem Gold.

Wer wissen will, wo die Würste nach ihrer anderthalbstündigen Trocknungs-, Räucher- und Duschprozedur hinwandern, muss nur der roten Kistenschlange folgen, die an der Decke entlangkriecht und vom Lager – Kapazität 1 800 Stück – bis zur Verpackungsabteilung reicht. Philipp Winters greift sich eine Wurst frisch aus dem Rauch. Seine Wiener isst er täglich, mal die eine, mal die andere Sorte. Das Wiener Würstchen ist einfach nicht totzukriegen, der Absatz ist stabil wie ein Fels. Warum? Wiener sind eben Tradition, sagt Herr Winters, und zugleich so ein „Gemeinschaftsding“, das viele verbindet. Und so soll es bleiben, findet er. „Eine gute Sache soll man nicht ändern.“