Von Miriam Schönbach
Mike Zühlke sieht es schon von Weitem aus seinem Vierzigtonner. Ein Kleinwagen zieht an einer Auffahrt rücksichtslos auf die Autobahn. Ein Lkw, der gerade angefahren kommt, kann die Spur nicht schnell genug wechseln. Das Auto berührt den Laster nur leicht. Dann passiert alles in Sekundenschnelle. Der Pkw dreht sich, knallt gegen die Leitplanke. Mike Zühlke steigt in die Eisen. Fünf Meter vor dem Pkw kommt er zum Stehen. An diesem Tag vor zwei Jahren beschließt er, seinen Traumjob als Brummifahrer an den Nagel zu hängen. „Zuletzt fuhr die Angst mit“, sagt der 47-Jährige.

520 Kollisionen mit Lkw-Beteiligung stehen bereits in der Unfallstatistik der Polizeidirektion Görlitz für das erste Halbjahr 2015. Drei Menschen kamen dabei ums Leben. Polizeihauptkommissar Hartmut Herz kennt die Zahlen genau. Er ist für die Unfallauswertung zuständig. „Ich rechne am Ende des Jahres mit doppelt so vielen Unfällen“, sagt der Polizist des Autobahnpolizeireviers und zieht den Vergleich zum Vorjahr. 2014 gab es 1 080 Verkehrsunfälle mit Lkws in den Landkreis Görlitz und Bautzen. In drei Fällen forderten die Zusammenstöße Tote. Deutschlandweit krachte es knapp 33 000 Mal mit der Beteiligung von Güterkraftfahrzeugen.
„Gut die Hälfte verursachen die Lkw-Fahrer selbst“, schätzt Hartmut Herz. Lange fuhr der 59-Jährige den zivilen Videowagen zur Überwachung des Verkehrs auf der Autobahn zwischen der Anschlussstelle Ludwigsdorf und dem Dreieck Hermsdorf. Was er und seine Kollegen dort häufig zu sehen bekommen, lässt ihn den Kopf schütteln. Die Füße liegen oben, im Laptop läuft eine DVD, nebenbei wird noch mit zu Hause telefoniert, während der Tempomat die Geschwindigkeit hält. Wer erwischt wird, bekommt ein Bußgeld. Doch diese Unaufmerksamkeit kann tödlich sein – für den Lkw-Fahrer und alle anderen. Verkehrswissenschaftler haben festgestellt: Ist ein Lkw mit Tempo 80 unterwegs, so bedeutet eine Sekunde Achtlosigkeit 25 Meter Blindflug. Ein plötzlich auftauchendes Stau-Ende wird auf diese Weise rasch zur Todeszone. Denn bei einem Auffahrunfall wirken massive Kräfte. Die Energie eines Vierzigtonners, der mit 80 Kilometern pro Stunde unterwegs ist, entspricht der eines Pkw mit 400 Stundenkilometern.
Fahrer unter Druck
Das falsche Einschätzen der eigenen Geschwindigkeit, zu geringe Abstände zum Vordermann und Ablenkung während der Fahrt sind nach Angaben des ADAC die häufigsten Ursachen bei Lkw-Unfällen. Diese Ergebnisse decken sich mit den Beobachtungen der Polizeidirektion Görlitz. Nach Vorfahrtsfehlern und technischen Mängeln rangiert das Unterschätzen des Abstands auf Platz 3 der Unfallursachenliste. So müsste zum Beispiel jeder Lkw auf der Autobahn 50 Meter Abstand zum vorherigen Fahrzeug halten. Das ist die Distanz zwischen zwei Leitpfosten.
Polizeihauptkommissar Hartmut Herz ist sich sicher: „Wir müssten jedes vierte bis fünfte Güterfahrzeug wegen eines solchen Verstoßes von der Straße holen.“ Doch für diese Rund-um-die-Uhr-Kontrollen fehlen schlicht die Kräfte. Allein die Beobachtung des über 90 Kilometer langen Autobahnabschnittes bis vor die Tore der Stadt Dresden ist sehr aufwendig. Zehnmal ging im vergangenen Jahr zum Beispiel der Videowagen auf die Jagd nach Verkehrssündern und Schrott-Lkws. Gerissene Bremsscheiben, kaputte Reifen und Rahmen sind nur einige technische Defekte.
Die Schwachstellen kennen die Brummifahrer am besten. Trotzdem müssen sie aufs Gas drücken. „Unsere Zeitfenster werden immer enger, die Konkurrenz immer stärker, rollende Lager sind inzwischen gang und gäbe. Wir kommen mit Rohstoffen oder Waren, die sofort weiterverarbeitet werden“, sagt Mike Zühlke. Er betreut nach elf Jahren auf Achse einen Fuhrpark in Hänichen. Hartmut Herz sagt: „Die Auftraggeber machen Druck, die Spediteure machen Druck. Das wird auf dem Rücken der Fahrer ausgetragen.“ Dabei wolle jeder gesund nach Hause kommen.
Die Polizeidirektion Görlitz setzt deshalb auf Prävention. Einmal im Monat lädt sie zum Beispiel zum Fernfahrerstammtisch in die Autobahnraststelle „Oberlausitz“ ein. Dort werden die Fahrer auch über aktuelle Engstellen informiert. Ein solches Nadelöhr ist derzeit die Anschlussstelle Hermsdorf auf der A4. Die verkürzte Einfädelspur samt Stoppschild lässt es dort häufiger krachen. Bremsen, anhalten, schauen und dann erst losfahren, heißt die einzige Lösung an dieser Stelle.
Dazu kommt ein sehr dichtes Verkehrsaufkommen. Über die Region führt ein großer Teil des Transitverkehrs Richtung Osteuropa. „Gut 60 Prozent der Fahrzeuge auf der Autobahn haben ein ausländisches Kennzeichen. Ein Drittel der Unfallverursacher besitzt keinen deutschen Pass“, sagt Hartmut Herz. Besonders häufig werden seine Kollegen Sonntagnacht ab 22 Uhr sowie am Montag und Dienstag zu Unfällen auf die Autobahn in Richtung Dresden gerufen. Auf der Gegenrichtung kracht es eher am Donnerstag und Freitag.
Mike Zühlke denkt heute noch an seine Fahrten. 200 000 Kilometer standen in manchem Jahr auf seinem Tacho. Manchmal träumt er doch noch von einer Rückkehr ins Fahrerhaus. „Die technischen Ausrüstungen der Lkws werden immer besser. Dazu müssten sich die Arbeitsbedingungen ändern. Vielleicht können auch die Pkw-Fahrer ein bisschen Rücksicht nehmen. So könnte sich die Zahl der Unfälle verringern“, sagt er.