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Botschafter im Namen Lessings

Der langjährige Museumsleiter Dieter Fratzke aus Kamenz berichtete in Cincinnati/Ohio über 25 Jahre Wendeerfahrung.

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© privat

Anfang Oktober hat der ehemalige Leiter des Kamenzer Lessing-Museums, der Germanist Dieter Fratzke, in Cincinnati/ Ohio an einer Konferenz anlässlich des 25. Jahrestages der deutschen Wiedervereinigung teilgenommen. Nach seiner Rückkehr sprach die SZ mit ihm über den Ausgangspunkt und die Ergebnisse sowie Erlebnisse dieser Reise.

Herr Fratzke, wie kam die Reise zustande?

Das Lessing-Museum, das ich von 1975 bis 2006 geleitet habe, war durch eine über 25 Jahre währende Kooperation mit der internationalen Lessing Society verbunden, die bis vor einigen Jahren an der Deutsch-Abteilung der University of Cincinnati beheimatet gewesen ist. Von dort bin ich zu einer Konferenz mit dem Titel „Berliner Republik“ eingeladen worden. Sie beschäftigte sich mit Reflexionen auf die deutsche Einheit, in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Und da ich für das Museum jeweils 15 Jahre vor bzw. nach der Wiedervereinigung und ab 1995 zusätzlich für das Bund-Land-Projekt „Lessing in Kamenz“ verantwortlich war, erwartete man von mir einen Beitrag über die kulturellen Veränderungen in Ostdeutschland nach 1990. Dargestellt am Beispiel der Entwicklung des Lessing-Museums. Gefördert wurden Reise und Aufenthalt übrigens von der deutschen Botschaft in den USA und gastgebenden Professoren.

Wie und wann entstanden die Verbindungen nach Cincinnati?

Bereits 1976, also inmitten des Kalten Krieges, hatte mir der inzwischen emeritierte Germanistik-Professor Richard E. Schade als Vertreter der Lessing Society brieflich die Kontaktaufnahme angeboten, was damals freilich für beide Seiten kein leichtes Unterfangen war. Dennoch bin ich darauf eingegangen und konnte ihn schließlich 1979 und 1983 sogar zu Vorträgen nach Kamenz eingeladen. Eine umfassende Kooperation ist allerdings erst von 1990 an möglich gewesen. So bin ich 1990, übrigens noch als DDR-Bürger, zum ersten Mal nach Cincinnati geflogen, um mit Vorträgen und Gesprächen die weitere Zusammenarbeit vorzubereiten. Und Richard Schade, der auch 16 Jahre lang als Honorarkonsul in Ohio für die Bundesrepublik tätig war, kam seit der Wiedervereinigung mehrmals nach Kamenz, als Vortragender und zu unseren Tagungen.

Über welche Veränderungen in der Museumsarbeit haben Sie in Cincinnati informiert?

Mein Erfahrungsbericht widmete sich, im Vergleich mit der Situation in der DDR, sowohl inhaltlichen wie finanziellen Problemen nach 1990. Das kleine, gesamtstaatlich aber bedeutsame Kamenzer Literaturmuseum kam gemäß dem Einigungsvertrag unmittelbar nach dem 3. Oktober in die kommunale Trägerschaft der Lessing-Stadt. Wodurch es zunächst radikale Budgetkürzungen hinnehmen musste und dadurch in eine existenzielle Krise geriet. Doch aufgrund der nationalen Bedeutsamkeit erhielt die Einrichtung Anfang der 1990er Jahre im Rahmen der kulturellen Übergangfinanzierung des Bundes umfangreiche Fördergelder. Damit konnte u. a. das Lessing-Haus saniert und zu einem „Haus der Literatur und des Lesens“ ausgebaut werden. Außerdem ist es möglich gewesen, die Modernisierung der Museumsarbeit durch eine zeitgemäße Ausstattung und die Einführung digitaler Technik vorzunehmen. Von 1994 an gab es dann jährlich Zuwendungen auf der Grundlage des Sächsischen Kulturraumgesetzes, das bis heute die Mitfinanzierung der regional bedeutsamen, nicht-staatlichen Einrichtungen durch das Land garantiert. Schließlich wurde das Museum von 1995 bis 2006 durch das Bund-Land-Projekt „Lessing in Kamenz“ großzügig gefördert.

Was hat das über zehnjährige Projekt bewirkt?

Die Museumsarbeit wurde intensiviert und erweitert, des Weiteren sind öffentlichkeitswirksame Aktivitäten wie Tagungen und Sonder- bzw. Wanderausstellungen im In- und Ausland durchgeführt worden und die Fortsetzung der museumseigenen Schriftenreihe wie der traditionsreichen Kamenzer Lessing-Tage ist finanzierbar gewesen. Auch konnte die Zusammenarbeit mit der Wolfenbütteler Lessing-Akademie und der Lessing Society bzw. der University of Cincinnati ausgebaut werden. Im Mittelpunkt des Projektes stand die Einrichtung und Tätigkeit der Arbeitsstelle für Lessing-Rezeption, die bekanntlich bis heute im sogenannten Röhrmeisterhaus neben dem Museum ihr Domizil hat.

Wie hat sich nach 1990 die Sicht auf Lessing verändert?

In der DDR ist das Gedankengut des „bürgerlich-humanistischen Erbes“, zu dem auch Lessing gehörte, ein wichtiger Teil der Bildung und Erziehung gewesen. Das führte anfangs zu einem vereinfachendem Lessing-Bild, dem das Museum im Großen und Ganzen verpflichtet war. Nach 1970 begann dann eine differenziertere Erforschung Lessings und seines Werkes, unter Einbeziehung neuester Erkenntnisse der westlichen Germanistik. Dadurch erhielt die Museumsarbeit ein schärferes wissenschaftliches Profil. Dennoch war nach 1990 eine inhaltliche Neuorientierung erforderlich – nun mit einem erweiterten Verständnis Lessings und der Aufklärung.

Hat sich die Wiedervereinigung auf Ihre Arbeit auch in anderer Hinsicht ausgewirkt?

Natürlich. Und zwar vor allem durch den soziokulturellen Wandel des Museumspublikums. Denn der Zusammenbruch der DDR brachte, wie man ja weiß, auch soziale Unsicherheit und Existenzängste. So kam es in den Wendewirren der „Übergangsgesellschaft“ zu einem gravierenden Bedeutungsverlust des kulturellen Lebens. Daraus folgte ein Rückgang der Museumsbesuche auf weniger als die Hälfte. Um den bisherigen Zuspruch wieder zu erreichen, waren große Kraftanstrengungen des gesamten Teams nötig.

Wie hat man in Cincinnati auf Ihren Erfahrungsbericht reagiert?

Das Interesse ist spürbar gewesen. Und es waren von einigen Konferenzteilnehmern und Gästen nicht nur anerkennende Worte über die projektgeförderte Entwicklung des Museums zu hören, sondern ebenso über den heutigen Stand der Arbeit. Denn nachdem das Bund-Land-Projekt 2006 von den Geldgebern beendet wurde, musste die Intensivierung und Ausweitung der Museumsarbeit zurückgenommen werden und die Kamenzer Lessing-Tage können nur noch alle zwei Jahre stattfinden. Auch gibt es für die Arbeitsstelle bloß noch zwei Personalstellen und geringere finanzielle Mittel. Trotz der reduzierten Möglichkeiten ist es meiner Nachfolgerin im Amt, Dr. Sylke Kaufmann, aber durch Kontinuität und Neuerungen gelungen, der Bedeutung Lessings gerecht zu werden. Auch vermag die Arbeitsstelle weiterhin erfolgreich zu wirken, was gerade in unserer Zeit besonders wichtig ist. Jetzt geht es doch mehr denn je darum, die Konflikte in der kleinen wie der großen Welt auch mit den Prinzipien der Aufklärung zu bewältigen: also durch mündiges und vernünftiges Selbstdenken, aus dem humanes und tolerantes Handeln resultieren sollte. Leider wird es aber immer schwieriger, bei der Vermittlung von Lessings Lebensleistung ein größeres Publikum zu erreichen.

Was haben Sie in Cincinnati am Rande der Konferenz sonst noch erlebt?

Einiges. Ich konnte sehen, wie sich Stadt und Universität weiterentwickelt haben, bin bei einer eindrucksvollen Feier anlässlich des Einheitsjubiläums in einer Schule dabei gewesen, in der auch Kinder von Immigrationsfamilien aus über 20 Ländern Deutsch lernen. Und ich war im German Heritage Museum, das Erinnerungen an die deutsche Einwanderung aufbewahrt und ausstellt. Dazu muss man wissen, dass im 18. und 19. Jahrhundert besonders viele Deutsche nach Ohio gekommen sind.

Gespräch: Sebastian Frey