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Bratwurstrepublik Deutschland

Weshalb die Fleisch- und Wurst-Krebswarnung der WHO die deutsche Gesellschaft und Politik im Mark trifft. Eine Betrachtung mit Biss.

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© dpa

Von Sven Siebert

Manche Menschen glauben ja, in Deutschland herrsche der Tugendterror der politischen Korrektheit. Viele Wahrheiten ließen sich nicht aussprechen, ohne dass eine Welle organisierter Empörung über den Absender hereinbräche. Und diese Beobachtung ist natürlich ganz richtig. Politiker, die ein Tempolimit fordern, weil allgemein bekannt ist, dass dadurch der Stress im Alltag abnehmen würde, weniger Kinder auf den Straßen sterben und die Umwelt geschont wird, verlieren mit großer Sicherheit die nächste Wahl. Und wer in Deutschland empfiehlt, den Fleischkonsum zu verringern, weil dies für alle gesünder ist, das Tierwohl respektiert und die Umwelt schont, kann sich gleich an der Meldestelle für Volksverräter anstellen. Ein Glück für die Weltgesundheitsorganisation WHO, dass sie nicht zur nächsten Bundestagswahl antritt.

Es ist schon klar: Es geht um die Wurst. Dass die WHO vergangene Woche rotes Fleisch als „wahrscheinlich krebserregend“, verarbeitetes Fleisch wie Wurst, Schinken oder Dosenfleisch als eindeutig „krebserregend“ einstufte, verursachte in Deutschland ein mittleres Erdbeben. Der Schock sitzt tief. Nur der für Landwirtschaft und Ernährung zuständige Bundeswurstminister Christian Schmidt (CSU) nahm die Sache offenbar gelassen. Er brauchte 27 Stunden, bis er auf die verstörende Meldung der WHO reagierte. Und so erschienen all die Berichte über die Krebswurst ohne den schönen Satz aus dem Munde Schmidts: „Niemand muss Angst haben, wenn er mal eine Bratwurst isst!“

Wurst ist nicht nur ein zentraler Bestandteil der Volksernährung, sie spielt auch in der Politik eine herausragende Rolle. Wenn Horst Seehofer ausdrücken möchte, dass er sich mit Sigmar Gabriel gut versteht, sagt er: „Wir könnten gut eine Bratwurst an der Ecke essen.“ Und wenn die Grüne Katrin Göring-Eckardt mal ganz volksnah ist, greift auch sie zur Bratwurst. Vergangenes Jahr versprach sie: „Wenn wir Fußballweltmeister werden, grille ich beim Empfang der Nationalmannschaft in Berlin im Deutschland-Trikot (Bio-)Rostbratwürste.“ Hat sie auch getan.

Bratwürste in der Öffentlichkeit zu essen ist gleichermaßen beliebt wie würdevoll und kleckerfrei eigentlich unmöglich. Alt-Kanzler Gerhard Schröder wurde in dieser Disziplin vor einigen Jahren zum „Meister des Bratwurstessens“ ernannt. Und man darf nicht vergessen, dass Schröders Ehe mit „Hillu“ unter anderem daran zerbrach, dass sie die Zubereitung von Fleischmahlzeiten unabgesprochen einstellte.

Wer weiß, ob es so rasch zur Wiedervereinigung gekommen wäre, hätte Helmut Kohl nicht am 10. November 1989, am Tag nach dem Mauerfall, in einem Brief an US-Präsident George Bush sen. angekündigt, er werde Bushs Ehefrau Barbara zu Weihnachten Würste schicken. Kohl war sowieso ein noch größerer Wurstkanzler als Schröder. Seine Lieblingswurst, der Pfälzer Saumagen, startete 1990 seinen weltweiten Siegeszug, als der ewige Kanzler ihn seinem Besucher Michail Gorbatschow in Deidesheim servieren ließ. Der Wachenheimer Metzger Klaus Hambel rühmt sich, 1996 „die wahrscheinlich größte Schlachtplatte, die je aus Europa nach Amerika kam“, zur Vollversammlung der Vereinten Nationen nach New York geliefert zu haben: Pfälzer Fleisch- und Wurstspezialitäten für tausend Gäste. Die WHO war wahrscheinlich auch eingeladen.