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Und, was machen die Füße?

Wie der  Verleger Peter Hinke die Leipziger Buchmesse mit Lene Voigt und anderen feiert und manches auch glücklicherweise verpasst.

Von Karin Großmann
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"Die Leipziger Buchmesse ist wichtiger für den Kopf als fürs Geschäft", sagt der Leipziger Verleger Peter Hinke.
"Die Leipziger Buchmesse ist wichtiger für den Kopf als fürs Geschäft", sagt der Leipziger Verleger Peter Hinke. © Thomas Kretschel

Peter Hinke ist ein Messemuffel. Er kann nur eine bestimmte Menge Mensch auf einmal vertragen. Nach der ersten halben Stunde ist die Toleranzgrenze schon überschritten. Unterwegs zum Stand in Halle 5 stürzt er beinahe über die Efeuschleppe einer Waldfee. Junge Erwachsene mit jungen erwachsenen Plüschschweinen drängeln sich zwischen Barockkleider mit Rapunzelzöpfen. Wer sorgenvoll über amerikanische Haushaltsaufrüstung räsoniert, hat den bewaffneten Messetag nicht erlebt. So wichtig diese Spielwiese für Mangafans sein mag: Leider spielen sie nicht nur auf ihrem eigenen Platz, und es dauert, bis alle alle fotografiert haben. Man trägt heuer Totenkopf.

Außerdem hat Peter Hinke hinter den Kulissen genug zu tun. Wenn er in diesem Jahr trotzdem etliche Stunden in seiner Koje verbringt, muss das einen ernsthaften Grund haben. Der Chef der Connewitzer Verlagsbuchhandlung wird ausgezeichnet. Er erhält den Sächsischen Verlagspreis, der mit 10 000 Euro dotiert ist und zum zweiten Mal vergeben wird. Der Preis soll vor allem das Engagement der konzernunabhängigen Verleger feiern. Sie riskieren oft Kopf und Kragen, das Erbe der Schwiegermutter und den Schlaf vor Mitternacht sowieso, um Bücher zu machen. Diese Romane, Essays und Lyrikbände sind dann nicht bloß das berühmte Salz in der Suppe. Da gibt es Kardamom, Borretsch, Pimpinelle und viele wunderseltene Gewürze.

Hohe Verkaufszahlen garantiert das freilich nicht. Von einer Warteschlange, wie sie sich geschätzte zwölf Kilometer lang um den Signiertisch einer Autorin namens Laura Kneidl ringelt, kann Peter Hinke nur träumen. Ihre Bücher folgen einem neuen Trend. Sie mixen Fantastik und Liebesstory. Davon träumt Hinke nicht. Eher hält er es mit dem Verleger Kurt Wolff, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts „für mutiges Büchermachen gegen den Strom“ stand, „für Zeitlosigkeit, für Inhalt und schöne Gestaltung“. Als Bibliotheksfacharbeiterlehrling ging Hinke fast täglich auf dem Weg zur Deutschen Bücherei am einstigen Verlagssitz von Wolff vorbei.

Auch am Sonntag sind die Messehallen noch einmal gut gefüllt.
Auch am Sonntag sind die Messehallen noch einmal gut gefüllt. © dpa

Die fein abgeseilte Warteschlange ist nicht das Einzige, was Peter Hinke an seinem Messestand verpasst. „Am ersten Tag gibt es die meisten Pannen, aber ab dem dritten könnte man noch drei Wochen Messe weitermachen“, sagt er und wuchtet den schwarzen Ledersack vom Rücken. Er transportiert keine Ziegelsteine. Er transportiert, und das wundert jetzt nicht, Bücher. Jeder Autor seines Verlags soll sich am Stand vertreten sehen. Sichtbarkeit ist das Wort, das Messechef Oliver Zille in diesen Tagen am meisten benutzt. Hinke holt eine Blechschachtel aus dem Rucksack. Sie enthält kein Lübecker Marzipan, wie der Deckel behauptet, sondern ein Tablet. Mehr Technik braucht er nicht, kein Auto, kein Handy, keinen Fernseher. „Und jetzt noch die Stullis“, sagt er, öffnet eine rote Brotdose und schnuppert genüsslich. Körniges Schwarzes mit Butter drauf. Alles andere hätte verwundert.

Der 53-jährige Peter Hinke stammt aus dem neuerdings heftig umkämpften Leipziger Stadtteil Connewitz und gehört gewiss nicht zur Sorte der glamourösen Verlagspatriarchen von einst. „Ich bin nicht so der verkopfte Elfenbeinturmtyp.“ Die „Patriarchendämmerung“ hat ohnehin längst begonnen, wie eine Diskussionsrunde auf der Messe feststellte. Die Programme von Piper, Aufbau, Carlsen, Dumont, Kiepenheuer & Witsch, Beltz, Blanvalet, Luchterhand, Goldmann, S. Fischer oder Hoffmann und Campe werden von Frauen gemacht. Das sagt noch nichts über die ungleiche Machtverteilung in der Buchbranche. Mit ironischem Lächeln meint Peter Hinkes Mitarbeiterin Frauke Hampel: „Er ist der Chef, und ich kümmere mich um den Rest.“ Mögliche Konflikte klären sie am gemeinsamen Abendbrottisch.

Unbekanntes von Lene Voigt

Die sächsische Dichterin Lene Voigt hat ihr  Zuhause in der Connewitzer Verlagsbuchhandlung. 
Die sächsische Dichterin Lene Voigt hat ihr  Zuhause in der Connewitzer Verlagsbuchhandlung.  © Verlagsarchiv

Der achtjährige Sohn wird in die Geheimnisse des Geschäfts gleich mit eingeweiht. Frauke Hampel hat eine Bücherrallye für ihn und seinen Freund erfunden. Sie sollen die Messehallen erkunden und dabei ein halbes Dutzend Fragen beantworten. Beispiel: Wo hat der E. A. Seemann Verlag seinen Stand, und was zeigt das Bauhaus-Buch dort auf dem Cover? Daran würde mancher Erwachsene scheitern. Die beiden Achtjährigen ziehen mit ihren Papierbögen los und werden stundenlang nicht mehr gesehen. Andere Eltern hätten längst die Polizei, den Bundesgrenzschutz und das Technische Hilfswerk alarmiert. Frauke Hampel lächelt. „Die Jungs können sich gut orientieren.“ Sie schiebt einige Bücher auf Kante. Lyrik, Prosa und Leipziger Heimatkunde. Hier werden nur Lieblingsbücher gemacht. „Wir sind sehr perfektionistisch, das zeichnet uns aus, dass wir lange herumtütteln.“ Große Verlage planen das Erscheinen eines Buchs auf den Tag genau. Frauke Hampel sagt. „Es ist fertig, wenn es fertig ist.“

Als Nächstes also: „De Babbierdande“. Das Bändchen enthält bislang unbekannte Texte von Lene Voigt. Die Gedichte und Geschichten wurden zwischen 1926 und 1932 in verschiedenen Blättern veröffentlicht, vorwiegend in der deutschen Zeitung Bohemia in Prag. Ein Forscher auf den Spuren von Kurt Tucholsky war auf die Beiträge gestoßen und gab sie der Connewitzer Verlagsbuchhandlung. Lene Voigt ist die Säulenheilige des Hauses.


Der Verleger erzählt, wie er in den Achtzigern in der Deutschen Bücherei die Buchausgabe von L bis Z betreute und mit dem Leipziger Literaturwissenschaftler Wolfgang U. Schütte ins Gespräch kam. Viele Lesestunden und einen politischen Umbruch später gründeten sie 1995 die Lene-Voigt-Gesellschaft, brachten eine noble sechsbändige Werkausgabe heraus und etliche weitere Bücher der populärsten sächsischen Dichterin. Andere Projekte folgten, und so geht das oft bei Peter Hinke. Er sammelt Verbündete. Er bleibt ihnen treu. Immer mal wieder wird der Verlagsstand zum Klassentreffen mit Händeschütteln und Schulterklopfen. Die Schriftstellerin Ulrike Almut Sandig gratuliert zum Verlagspreis. Ihre ersten Gedichtbände erschienen in der Connewitzer Verlagsbuchhandlung. Später wechselte sie zum Schöffling Verlag nach Frankfurt am Main. Auch andere Autoren hat Peter Hinke aufgebaut und an größere, bekanntere Verlage verloren. „Das ist wie beim Fußball, wenn ein Spieler aus der zweiten Liga in die erste aufsteigt“, sagt er. „Uns macht das stolz.“

Verliebt ins Ypsilon

Am Stand nebenan kreist eine Flasche Enzianschnaps. Hinke bietet den Kollegen aus Franken ein Butterbrot zum Tausch an. Die Ernährung ist nicht das einzige Problem auf der Messe. „Und, was machen die Füße?“, fragt Hinke die Chefin vom Sax-Verlag, die bei ihm vorbeischaut. Sie trägt schwarze Barfußschuhe. „Geht gut!“

Ein paar Gänge weiter residieren Iny und Elmar Lorentz an ihrem eigenen Verlagstisch mit Kaffeetöpfen und Knabberzeug und signieren stundenlang Bücher über Wanderhuren und was sie sonst unter einem ihrer acht Pseudonyme schreiben. Das verpasst Peter Hinke ebenso wie den Auftritt von Franz Müntefering. Der in Ehren ergraute SPD-Politiker gibt Tipps für gesundes Älterwerden: dreimal L. Das lässt sich gerade noch merken. Laufen, Lernen, Lachen. Noch mehr Beifall gibt es für den ungewöhnlichsten Buchtitel. Er hat neun Ypsilons: „Hyppytyynytyydytys“. Der Autor und Poetry-Slammer Henrik Szanto erklärt den Titel mit seiner Neigung zum Ungarischen und Finnischen. Das Wort stehe für die Freude, die man empfindet, wenn man auf Kissen herumspringt.

Für einen Buchtitel mit neun Ypsilons wird der Autor Henrik Szanto auf der Messe gefeiert. 
Für einen Buchtitel mit neun Ypsilons wird der Autor Henrik Szanto auf der Messe gefeiert.  © dpa


Bei Peter Hinke tut es ein Rasenstück auch. Der künstliche Rasen wurde sparsam verlegt. Messe ist teuer. Die Miete für den Fünf-Quadratmeter-Stand kostet rund tausend Euro und jeder Buchstabe des Verlagsnamens über der Norm extra. Connewitzer Verlagsbuchhandlung ist Luxus pur. Macht 26,18 Euro. Der Verleger auf der anderen Seite ist Messeneuling. Sein Unternehmen heißt Carpathia wie das Schiff, das Passagiere der Titanic vorm Untergang rettete. „So langsam wird das Geld nicht weniger“, sagt der Verleger hoffnungsvoll.

Eine Carpathia könnte die Buchbranche dringend brauchen. Die Insolvenz des größten deutschen Zwischenhändlers KNV bedroht fast jeden und ist ein Hauptgesprächsthema auf der Messe. Gerade die kleineren Verlage sind vom Zahlungsausfall betroffen. Ihnen entgeht das existenzielle Weihnachtsgeschäft. Wenn dem Dresdner Verlag Voland & Quist Einnahmen von mehr als 65 000 Euro fehlen, ist das lebensgefährlich. Peter Hinke leidet unter der Insolvenz weniger. Er bringt höchstens eine Handvoll Bücher im Jahr heraus. „Aber man fühlt sich doch solidarisch, man kennt einander seit Langem und hat sich schon oft geholfen.“ In dieser schwierigen Situation würde er seinen Sächsischen Verlagspreis Ende April gern in einem bescheidenen Rahmen feiern. So erklärt er es dem SPD-Politiker Martin Dulig, der als Wirtschaftsminister den Preis mit stiftet und an diesem Sonnabend einen Messeausflug unternimmt. Dulig nickt. Sachsen gehört zu jenen Bundesländern, die jetzt über eine strukturelle Förderung der Verlagsszene nachdenken.

Das wird gerade in Halle 5 gern gehört, wo sich Einmann- und Zweifraubetriebe rund um eine Vorleseinsel gruppieren. Lautstark skandieren Poetry-Slammer ihre Texte. Schnell bildet sich ein Pulk von Zuhörenden. Interessante Perspektive von Rückenansichten. Erstaunlich viel Übergewicht. Auch bei den Rucksäcken. Am Ende bleibt nur ein schmaler Gang vorm Verlagsstand frei. Ein junger Mann nimmt einen Sammelband vom Regal. Seit 2003 druckt Peter Hinke Texte von Studenten aus dem Leipziger Literaturinstitut. Für ihn gehören sie zur Verlagsfamilie wie die Autoren, die Lektoren, Gestalter und Drucker.

Die Schauspielerin Anne Kasprik erzählt von ihrer Karriere in Ost und West.
Die Schauspielerin Anne Kasprik erzählt von ihrer Karriere in Ost und West. © imago


Manche Zusammenarbeit begann schon vor dreißig Jahren. Es gab noch die DDR, aber noch nicht den Begriff Samisdat für Literatur aus dem Untergrund. Dort produzierte Peter Hinke die Zeitschrift Sno’Boy: Lyrik, Prosa und Fotografie – ein Grundstein für die Connewitzer Verlagsbuchhandlung. Die Zulassung erhielt Hinke am Nachmittag des 13. März 1990 im Rat des Stadtbezirks Leipzig-Süd, Abteilung Kultur. An die Anfänge erinnert er sich nur zu gern: „Es war eine Zeit, als alles möglich schien, eine verrückte, magische Zwischenzeit. Diese Aufbruchstimmung trägt uns bis heute.“

Neben dem Verlag betreibt er zwei Buchhandlungen: eine im alten Messehaus Specks Hof und den „Wörtersee“ in der Leipziger Südvorstadt. An jedem Messeabend versorgen seine Leute fünf, sechs Leseorte per Lastenrad mit Büchern. Die Materialschlacht beginnt zwei Wochen vor der Messe. Jeder Autor soll seinen Stapel zum Signieren bekommen, und wenn es gut geht, kann er in den nächsten Monaten davon leben. Manchmal geht es nicht gut. Dann bringen Hinkes Kollegen alles wieder zurück. Dann hat er den eigenen Laden nach der Lesung schon wieder umgeräumt. Jeder Abend bei ihm ist ein kleines Fest.

Die Messe zählte insgesamt 286 000 Besucher. Es war wohl nur eine Reverenz an das Gastland Tschechien, dass zur Eröffnung im Gewandhaus Leoš Janáček gespielt wurde: die Ouvertüre zur Oper „Aus einem Totenhaus“.