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Chaos im Schulrucksack – und im Kopf

Nur an jeder 13. Schule in Sachsen erhalten Kinder Hilfe durch Schulsozialarbeiter. Dabei ist der Bedarf groß – und wächst.

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© momentphoto.de/bonss

Von Carola Lauterbach

Wenige Minuten, nachdem es zur großen Pause geklingelt hat, wird schon heftig an Kathrin Mays Tür geklopft. Einen Sechstklässler drängt es, mit der Sozialpädagogin zu reden. Kurz zuvor hatte ein Lehrer den Wunsch, mit ihr über einen Schüler zu sprechen. Es scheint, die 28-Jährige ist eine feste Institution am Gymnasium Dresden-Klotzsche.

Eine wichtige Ansprechpartnerin ist sie auch für den Schulleiter, wenn Schüler schulische oder private Krisen durchleiden. „Der Leistungsdruck, Druck, den Eltern machen, häusliche Probleme – bedingt durch Scheidung, Arbeitslosigkeit, zu viel Arbeit, Krankheit – all das tragen die Kinder mit sich herum“, sagt Frank Haubitz. Den Lehrern bleibe kaum Zeit, darauf einzugehen. Doch solche Probleme nähmen zu. Der Schulleiter: „Ich bin glücklich, dass wir Frau May haben.“

Glück ist wohl ein passendes Wort. Denn längst nicht jede der 1 352 öffentlichen Schulen im Freistaat hat „eine Frau May“. An welchen Schulen Schulsozialarbeit angeboten wird, würde statistisch nicht erfasst, ließ die dafür zuständige Sozialministerin Barbara Klepsch (CDU) die Linken-Bildungspolitikerin Cornelia Falken auf deren Anfrage im Sommer wissen. In einem Papier, das das Landesjugendamt dem Landesjugendhilfeausschuss im November letzten Jahres vorgelegt hat, ist von 172 Angeboten die Rede. Das heißt, Sozialarbeit gibt es nur an jeder 13. Schule!

Katrin May ist es wichtig, hier nicht als Schulsozialarbeiterin des Klotzscher Gymnasiums dargestellt zu werden. Das käme wohl einer Amtsanmaßung gleich. Denn Schulsozialarbeit in Sachsen ist projektfinanziert und an einen Träger der freien Jugendhilfe gekoppelt. Und exakt für ein solches – konkret auf 20 Schüler ausgerichtetes Projekt – ist die junge Frau für ihren Träger, das Christliche Jugenddorfwerk Deutschlands e. V., im Einsatz.

Projekt für 20 von 855 Schülern

Das Projekt, das sie am Gymnasium im Dresdner Norden, an dem aber immerhin 855 Schüler lernen, betreut, nennt sich „Soziale Schule“. Es wird aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds finanziert und hat das Ziel, Schüler individuell zu fördern. Etwa, wenn es ihnen schwerfällt, sich zu konzentrieren. Wenn sie Probleme mit Lerntechniken haben. Wenn sie wegen eines Vortrags vor der Klasse regelmäßig in Panik geraten. Wenn sie sich verzetteln. Wenn Chaos in ihrem Schulrucksack herrscht. Wenn ihnen alles so sehr über den Kopf wächst, dass sie sich anderen gegenüber verschließen – oder aggressiv werden. Schulsozialarbeit, so der Grundsatz, muss immer vom Kind aus gedacht werden und immer dessen Interessen vertreten.

Kathrin May arbeitet einzeln mit den Kindern oder in Gruppen. Sie redet mit ihnen, lässt sie erzählen. Und sie arbeitet ihre Probleme spielerisch mit ihnen auf. Dabei erfährt sie vieles, was vermutlich kaum ein Lehrer erführe. Etwa, dass sich Kinder oft allein überlassen sind. Oder, dass ihnen für sich selbst zu wenig Zeit bleibt, weil sie sich intensiv um jüngere Geschwister kümmern müssen. Auch, dass sie schon mal darüber nachgedacht haben, sich selbst zu verletzen… Ihre Arbeit baut auf Verstehen und Vertrauen. Die Sozialpädagogin steht im ständigen Austausch mit Lehrern und Eltern und ist davon überzeugt, dass es sich für die Schüler auszahlt, wenn sie sich in der Schule auch einmal jenseits des unterrichtlichen Bewertungsdrucks präsentieren können. „Wir schaffen es so, ihr Selbstwertgefühl zu stärken, was sich wiederum positiv auf die Lernmotivation und den Schulerfolg auswirkt“, sagt die junge Frau.

Abgesehen davon, dass sie sich regelmäßig einmal wöchentlich mit den Beratungslehrern trifft, weiß sie ein gut funktionierendes Netzwerk hinter sich. Ihre Anrufe beim Jugendamt, bei Psychologen, Streetworkern werden stets erhört und sind für ihre Arbeit unabdingbar. Und auch die Eltern profitieren davon. Oft wüssten einige einfach nicht mehr weiter. „Die Hemmschwelle, zu mir zu kommen, ist für sie deutlich geringer, als wenn sie in ein Amt müssten“, schätzt Kathrin May ein. Folgerichtig kämen auch einige der Kinder, die sie im Projekt betreut, auf Bitten der Eltern. Andere auf Empfehlung der Schule.

Bei zahlreichen Eltern und Pädagogen hat sich diese Überzeugung fest verinnerlicht: Sozialarbeit gehört an jede sächsische Schule. Sie müsse gesetzlich verankert und dauerhaft vom Freistaat finanziert werden. Auf Initiative des Stadtelternrates Leipzig und unterstützt vom Landeselternrat wurde bereits eine entsprechende Petition verfasst. Auch eine Umfrage des Landesschülerrates unter Schülern im vergangenen Jahr mündet in dieser Forderung.

Gleichwohl es das Thema Schulsozialarbeit in den Koalitionsvertrag von CDU und SPD geschafft hat – sogar prominent auf Seite 12 von 118 Seiten – und auch Sachsens Kultusministerin in ihrer Funktion als Präsidentin der Kultusministerkonferenz „deutlich mehr Sozialarbeiter an Schulen“ gefordert hat, bleibt es bei der dürren Zahl von 172 in Sachsen. Aus der Not heraus leisten sich unterdessen einige Schulen eigene Sozialarbeiter, finanziert aus Elternspenden oder durch Schulfördervereine .