Politik
Merken

Corona: "Drinnen lauert die Gefahr"

Mit deutlichen Worten wenden sich Experten für Aerosole - Luftgemische, in denen auch das Coronavirus schwebt - an Politiker. Sie fordern einen Kurswechsel.

 4 Min.
Teilen
Folgen
"Wer sich zum Kaffee in der Fußgängerzone trifft, muss niemanden in sein Wohnzimmer einladen": Im Rahmen des sogenannten Saarland Modells darf Außengastromomie seit dieser Woche unter Auflagen wieder öffnen.
"Wer sich zum Kaffee in der Fußgängerzone trifft, muss niemanden in sein Wohnzimmer einladen": Im Rahmen des sogenannten Saarland Modells darf Außengastromomie seit dieser Woche unter Auflagen wieder öffnen. © Oliver Dietze/dpa

Berlin. Führende Aerosolforscher aus Deutschland fordern von der Politik einen Kurswechsel bei den Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Seuche. "Wenn wir die Pandemie in den Griff bekommen wollen, müssen wir die Menschen sensibilisieren, dass DRINNEN die Gefahr lauert", heißt es in einem Brief an die Bundesregierung und an die Landesregierungen.

Es gilt als sicher, dass sich das Coronavirus vor allem über Luft verbreitet. Das kann über die Tröpfchen geschehen, die beim Husten und Niesen entstehen und beim Gegenüber über die Schleimhäute aufgenommen werden. Oder über Aerosole, Gemische aus festen oder flüssigen Schwebeteilchen in der Luft, die Sars-CoV-2-Partikel enthalten. Sie sind definiert als Tröpfchenkerne kleiner als fünf Mikrometer und bleiben meist länger in der Luft als größere Tropfen, die rasch zu Boden sinken. Aerosol-Teilchen können Stunden bis Tage in der Luft schweben. Andere Infektionswege - etwa über Oberflächen - spielen eine wesentlich geringere Rolle für das Infektionsgeschehen.

Ansteckung im Freien äußerst selten

"Leider werden bis heute wesentliche Erkenntnisse unserer Forschungsarbeit nicht in praktisches Handeln übersetzt", kritisieren die Verfasser. In Wohnungen, Büros, Klassenräumen, Wohnanlagen und Betreuungseinrichtungen müssten Maßnahmen ergriffen werden. In Innenräumen finde auch dann eine Ansteckung statt, wenn man sich nicht direkt mit jemandem trifft, sich aber ein Infektiöser vorher in einem schlecht belüfteten Raum aufgehalten hat, warnen sie. Debatten über das Flanieren auf Flusspromenaden, den Aufenthalt in Biergärten, das Joggen oder Radfahren seien hingegen kontraproduktiv.

Maßnahmen wie die Maskenpflicht beim Joggen an Alster und Elbe in Hamburg etwa seien eher symbolischer Natur und ließen "keinen nennenswerten Einfluss auf das Infektionsgeschehen erwarten", schreiben die Experten. Sars-CoV-2-Erreger würden fast ausnahmslos in Innenräumen übertragen. Im Freien sei das äußerst selten, im Promille-Bereich. Hierauf sollten die begrenzten Ressourcen nicht verschwendet werden, heißt es in dem Brief. Auch würden im Freien nie größere Gruppen - sogenannte Cluster - infiziert, wie das in Innenräumen etwa in Heimen, Schulen, Veranstaltungen, Chorproben oder Busfahrten zu beobachten sei.

Christof Asbach, Präsident der Gesellschaft für Aerosolforschung, zählt zu den Unterzeichnern des Offenen Briefes an die Bundesregierung.
Christof Asbach, Präsident der Gesellschaft für Aerosolforschung, zählt zu den Unterzeichnern des Offenen Briefes an die Bundesregierung. © Rolf Vennenbernd/dpa

Auch die Ausgangssperren versprechen aus Sicht der Wissenschaftler mehr als sie halten können. "Die heimlichen Treffen in Innenräumen werden damit nicht verhindert, sondern lediglich die Motivation erhöht, sich den staatlichen Anordnungen noch mehr zu entziehen", schreiben sie. "In der Fußgängerzone eine Maske zu tragen, um anschließend im eigenen Wohnzimmer eine Kaffeetafel ohne Maske zu veranstalten, ist nicht das, was wir als Experten unter Infektionsvermeidung verstehen."

Die Bundesregierung dringt darauf, bei der Regelung bundesweiter Corona-Schutzmaßnahmen auch nächtliche Ausgangsbeschränkungen von 21.00 bis 5.00 Uhr vorzuschreiben, wenn in Landkreisen binnen sieben Tagen mehr als 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern registriert werden. Stattdessen empfehlen die Autoren mehrere Maßnahmen wie:

  • Treffen in Innenräumen so kurz wie möglich zu gestalten
  • mit häufigem Stoß- oder Querlüften Bedingungen wie im Freien zu schaffen
  • effektive Masken in Innenräumen zu tragen
  • Raumluftreiniger und Filter überall dort zu installieren, wo Menschen sich länger in geschlossenen Räumen aufhalten müssen - etwa in Pflegeheimen, Büros und Schulen.

"Die Kombination dieser Maßnahmen führt zum Erfolg", heißt es weiter. "Wird das entsprechend kommuniziert, gewinnen damit die Menschen in dieser schweren Zeit zugleich ein Stück ihrer Bewegungsfreiheit zurück." Zu den Unterzeichnern zählen der Präsident der Gesellschaft für Aerosolforschung, Christof Asbach, Generalsekretärin Birgit Wehner und der frühere Präsident der Internationalen Gesellschaft für Aerosole in der Medizin, Gerhard Scheuch.

Saisonale Effekte greifen

Forscher der Technischen Universität Berlin hatten im Februar Berechnungen zum Ansteckungsrisiko für verschiedene Innenraum-Szenarien veröffentlicht. Unter den dabei gesetzten Voraussetzungen ist das Risiko beim Friseur, in wenig ausgelasteten Museen, Theatern und Kinos, aber auch in Supermärkten demnach vergleichsweise gering. Deutlich höher sei es in Fitnessstudios und vor allem in Oberschulen und Mehrpersonenbüros, errechnete das Team um Studienleiter Martin Kriegel.

Solche Berechnungen seien unheimlich komplex, hatte Aerosol-Experte Scheuch zu den Daten zu bedenken gegeben. Die Resultate, die das Risiko sehr exakt angeben, erweckten den Eindruck einer Präzision, die es so nicht gebe.

In den kommenden warmen Monaten dürften Forschern zufolge draußen zusätzliche saisonale Effekte greifen: So nimmt bei höheren Temperaturen die Stabilität der Virushülle ab. Sonnenstrahlen, insbesondere UV-Strahlung, schädigen die genetische Information des Virus - der Erreger wird inaktiviert. Hinzu kommt ein im Sommer anders arbeitendes menschliche Abwehrsystem und möglicherweise auch ein Effekt durch die wieder anspringende Bildung von Vitamin D mit Hilfe des Sonnenlichts. Wie stark saisonale Effekte das Infektionsgeschehen zu bremsen vermögen, ist allerdings unklar. (dpa)