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Corona: Den Engländern ist die Feierlust vergangen

100 Tage nach dem "Freedom Day" hat Großbritannien eine der höchsten Infektionsraten weltweit. Experten warnen, doch die Regierung bleibt auf Kurs.

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Sajid Javid, Gesundheitsminister von Großbritannien, und Dr. Jenny Harries, Leiterin der britischen Gesundheitsbehörde, bei einer Pressekonferenz. Trotz steigender Infektionszahlen plant die Regierung in London vorerst weiterhin keine Rückkehr der Coro
Sajid Javid, Gesundheitsminister von Großbritannien, und Dr. Jenny Harries, Leiterin der britischen Gesundheitsbehörde, bei einer Pressekonferenz. Trotz steigender Infektionszahlen plant die Regierung in London vorerst weiterhin keine Rückkehr der Coro © Toby Melville/PA Wire/dpa

London. "Vorsichtig, aber unumkehrbar" - so hatte der britische Premierminister Boris Johnson die schrittweise Aufhebung der Corona-Maßnahmen in England angekündigt. Am 19. Juli war es soweit. Im größten britischen Landesteil fielen die letzten Pandemie-Regeln wie Abstand halten und Maskentragen. Junge Nachtschwärmer feierten den "Freedom Day" ausgelassen in den Diskotheken des Landes. Doch 100 Tage später ist vielen nicht mehr zum Feiern zumute.

Großbritannien hat inzwischen eine der höchsten Infektionsraten weltweit. Die Sieben-Tage-Inzidenz lag zuletzt bei etwa 485, Tendenz steigend. Die als Impfwunder gefeierte Kampagne - die zu Beginn viel schneller anlief als in vielen EU-Ländern - gerät bei den Auffrischungsimpfungen für Ältere und den Jugendlichen ins Stocken.

Am 19. Juli fielen in England die letzten Pandemie-Regeln wie Abstand halten und Maskentragen. Junge Nachtschwärmer - wie hier in Leeds - feierten den "Freedom Day" ausgelassen.
Am 19. Juli fielen in England die letzten Pandemie-Regeln wie Abstand halten und Maskentragen. Junge Nachtschwärmer - wie hier in Leeds - feierten den "Freedom Day" ausgelassen. © Ioannis Alexopoulos/PA/dpa

Zuletzt kletterte die Zahl der registrierten Neuinfektionen auf beinahe 50.000. Die Zahl der täglichen Krankenhauseinweisungen liegt bei mehr als 1.000, täglich werden Dutzende Corona-Tote gemeldet. Eine neue, womöglich geringfügig ansteckendere Variante des Virus in Großbritannien, gilt hingegen bislang als wenig besorgniserregend.

Beim Parteitag seiner Konservativen in Manchester Anfang Oktober ließ sich Johnson noch dafür feiern, dass man "seit Monaten eine der offensten Wirtschaften und Gesellschaften" habe.

"Wir sind am Limit"

Doch Experten und Mediziner warnen inzwischen davor, dass der Abbau des während der Pandemie entstandenen Rückstaus an Krankenhausbehandlungen in Gefahr gebracht werden könnte. "Wir sind am Limit, und es ist Mitte Oktober. Es würde unglaublich viel Glück brauchen, damit wir uns in drei Monaten nicht in einer schweren Krise wiederfinden", sagte der Geschäftsführer des Verbands der Trägerorganisationen des Nationalen Gesundheitsdiensts NHS, Matthew Taylor, dem "Guardian". Der Ärzteverband BMA (British Medical Association) bezichtigte die Regierung, sogar "bewusst fahrlässig" zu handeln.

Taylor fordert wie viele andere, dass die Regierung ihren vor einigen Wochen angekündigten Plan B nun ins Spiel bringt - das würde zum Beispiel eine Wiedereinführung der Maskenpflicht in überfüllten Räumen und die Pflicht zum Vorzeigen von Impfpässen bei Großveranstaltungen bedeuten.

Pendler sitzen zum Teil mit und ohne Mund-Nasen-Schutz in einer Londoner U-Bahn.
Pendler sitzen zum Teil mit und ohne Mund-Nasen-Schutz in einer Londoner U-Bahn. © Matt Dunham/AP/dpa

Auch BMA-Chef Chaand Nagpaul forderte die sofortige Wiedereinführung von Corona-Maßnahmen. Die Regierung habe versprochen, Plan B zu ergreifen, wenn der Nationale Gesundheitsdienst NHS in Gefahr sei, überwältigt zu werden. "Als Ärzte, die in erster Reihe stehen, können wir absolut sagen, dass dieser Punkt jetzt erreicht ist", so Nagpaul eine Mitteilung zufolge.

Doch die Regierung will ihr Versprechen von der großen Freiheit noch nicht zurücknehmen, noch sei es nicht an der Zeit für Plan B, sagte Gesundheitsminister Sajid Javid jüngst. Zwar warnte er, die Zahl der täglichen Neuinfektionen könne schon bald auf bis zu 100.000 steigen. Stattdessen sollten die Menschen verstärkt dazu aufgerufen werden, sich impfen zu lassen. Freudig verkündete Javid, mehr als sechs Millionen Menschen hätten bereits eine Auffrischungsimpfung erhalten.

Wie das Online-Portal "Politico" berichtete, könnte das Kurshalten der Regierung auch finanzielle Gründe haben. Interne Dokumente, aus denen "Politico" am Dienstag zitierte, geben den Schaden für die britische Wirtschaft durch einen fünfmonatigen Plan B mit Maskenpflicht und Homeoffice mit bis zu 18 Milliarden Pfund (21,4 Mrd Euro) an.

Menschen in London an der U-Bahn-Station Piccadilly Circus. In Großbritannien beobachten Experten derzeit eine noch weitgehend unbekannte Mutante der Delta-Variante des Coronavirus.
Menschen in London an der U-Bahn-Station Piccadilly Circus. In Großbritannien beobachten Experten derzeit eine noch weitgehend unbekannte Mutante der Delta-Variante des Coronavirus. © Alberto Pezzali/AP/dpa

Warum Großbritannien erneut zum Sorgenkind in der Pandemie zu werden droht, dürfte verschiedene Gründe haben. Womöglich wird den Briten ihr Impfwunder nun teilweise zum Verhängnis, weil die Wirkung bei vielen bereits nachlässt, wie ein Datenjournalist der "Financial Times" (FT) mutmaßt. Ein Effekt, der sich auch in Israel gezeigt hatte. Ein Vergleich der Statistiken verschiedener Länder zeige auch, dass die völlig uneingeschränkten Menschenansammlungen in Innenräumen einen großen Anteil haben dürften, so "FT"-Journalist John Burn-Murdoch auf Twitter.

Zu ähnlichen Schlüssen kommt auch der Epidemiologe Neil Ferguson vom Imperial College in London. Er blickt vor allem mit Sorge auf die besonders hohen Infektionsraten unter Jugendlichen. 12- bis 15-Jährige in England werden bislang nur einmal geimpft, und die Impfrate ist niedrig. Er fordert daher eine Zweitimpfung für Jugendliche und eine Beschleunigung der Impfkampagne insgesamt.

In Deutschland ist man von britischen Verhältnissen noch weit entfernt. Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt bei etwa 110. Gesundheitsminister Jens Spahn will die sogenannte epidemische Lage nationaler Tragweite - die rechtliche Grundlage für Verordnungen und zentrale Corona-Maßnahmen - Ende November auslaufen lassen. Das ist zwar kein "Freedom Day", weil Maßnahmen wie Abstands- und Hygieneregeln bleiben, doch es gibt bereits Warnungen, dass dieser Eindruck in der Bevölkerung entstehen könnte. Ob das wünschenswert ist, dürfte angesichts der britischen Erfahrung in Zweifel gezogen werden. (dpa)