Corona und die Alten: Was in Sachsens Heimen schiefläuft

Ihre sterblichen Überreste sind da vorn, in der blaugrau gesprenkelten Urne. Rechts daneben steht ein Porträtfoto von ihr. Auf dem Boden liegen drei Gestecke und drei Sträuße: Gerbera, Rosen, Nelken. Auf einer weißen Banderole steht: „In liebevoller Erinnerung, dein Sohn Dietmar“. Über allem thront ein Metallkreuz.
Gisela D. wurde 91 Jahre alt. Sie starb in einem von 192 Einzelzimmern eines Dresdner Altenheims an Covid-19. Zu ihrer Beerdigung an einem frühen Nachmittag Ende Januar sind ihr Sohn, ihre Schwiegertochter und zwei Enkel in die kleine Feierhalle auf dem Dresdner Heidefriedhof gekommen. Und dann ist da noch ein älterer Herr, ein Freund der Familie. Fünf Trauernde, ein Pfarrer und der Bestatter. Mehr nicht. Corona-Schutz. In die Kontaktliste, die im Vorraum ausliegt, trägt sich niemand ein.
Tatsächlich ist Gisela D. an Covid-19 gestorben. So steht es auf ihrem Totenschein. Oder anders: Ohne Corona-Virus hätte sie – in welchem Zustand auch immer – noch einige Zeit weitergelebt. Das Gesundheitsministerium betont, in der sächsischen Corona-Todesstatistik seien nur die Fälle erfasst, die ursächlich an und nicht mit Covid-19 starben.
Während der halbstündigen Abschiedsfeier für Gisela D. läuft die Trauermusik vom Band. Der evangelische Pfarrer erzählt, sie habe kein leichtes Leben gehabt. Im August 1930 in Barby an der Elbe geboren, als Tochter eines Schiffbauers. Kindheit und Jugend im Krieg. Kindergärtnerin und Horterzieherin. Geburt des ersten Sohnes, Totgeburt, Geburt des zweiten Sohnes. Scheidung nach 34 Jahren, ihr Mann zieht zu einer anderen. Der älteste Sohn stirbt bei einem Autounfall. Zuckerschock, Pflegeheim. 2010 holte ihr zweiter Sohn Dietmar sie nach Dresden. Sie wird dement, hat Diabetes. „Corona tat das Übrige“, sagt der Pfarrer.

Von den bislang rund 7.600 Corona-Toten in Sachsen war nur jeder zehnte jünger als 70 Jahre. Wie viele dieser Senioren in den rund 1.000 Pflegeeinrichtungen mit ihren fast 61.000 Bewohnern starben, ist statistisch nicht erfasst. Der Arzt muss den genauen Sterbeort auf dem Totenschein nicht angegeben. Das ist bislang lediglich bei rund 800 Toten geschehen. Von ihnen stammte rund ein Drittel aus Altenheimen. Bundesweit gab es jedoch fast doppelt so viele Covid-19-Ausbrüche in Pflegeheimen wie im Frühjahr. Bezogen auf Sachsen, ist es noch gravierender: Im April 2020 gab es in 44 Heimen Corona, Anfang Februar 2021 waren es 148. Die Zahl der infizierten Bewohner verdreifachte sich auf 995 Bewohner, die der betroffenen Mitarbeiter stieg um 55 Prozent auf 334.
Dabei hatte Sachsens Gesundheitsministerin Petra Köpping von der SPD doch bereits im Frühjahr 2020 erklärt, es sei „eine der wichtigsten Aufgaben der nächsten Wochen“, erkranktes Personal und erkrankte Heimbewohner durch Testung schnell zu erkennen. „Wir wollen die besonders gefährdete Gruppe der älteren und vorerkrankten Personen noch gezielter schützen.“

Sieben Monate später appellierte Köpping erneut. Und zwar „eindringlich an die Verantwortung der Träger und Heimleitungen“. Verstöße gegen die Anordnung der Testungen seien nicht hinnehmbar. „Wir müssen Infektionsketten schnellstmöglich und kontinuierlich unterbrechen, um unsere älteren Menschen zu schützen.“
Erst Anfang Dezember aber zieht die Landesregierung die Zügel wirklich an. Besucher dürfen seitdem in die Heime nur hinein mit einem negativen Test-Ergebnis und einer FFP2-Maske. Die rund 44.000 Beschäftigten müssen inzwischen dreimal wöchentlich getestet werden. „Die Einrichtungen sind angehalten, die Tests selbst zu beschaffen, abzurechnen und die Durchführung eigenständig zu organisieren“, teilt das Gesundheitsministerium mit.
Dietmar D. hatte Anfang Dezember diversen Behörden geschrieben: Die Beschäftigten im Heim seiner Mutter würden nicht getestet, ebenso wenig seine Mutter selbst und die anderen Bewohner der Demenz-Abteilung. Trotz Symptomen. Die Bürgerbeauftragte des Gesundheitsministeriums antwortete ihm, die Einrichtungen arbeiteten intensiv daran, „dass neue Verfahren so schnell wie möglich in der Praxis zu etablieren“. Zur Unterstützung werde das Ministerium den ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen „zeitnah“ ein Informationspaket schicken.

Diese Antwort kam Mitte Dezember, kurz vor dem Höhepunkt der zweiten Corona-Welle. Dann setzte die Landesregierung eine strengere Corona-Schutzverordnung in Kraft. Seitdem sind die Einrichtungen verpflichtet, einen Antigentest bei Besuchern durchzuführen. Dem Vorstand der Deutsche Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, ging das alles nicht weit genug. Er kritisierte unter anderem fehlende Kontrollen.
Die Angst vor der Verantwortungsübernahme begann, mitunter seltsame Blüten zu treiben. Das Landratsamt Sächsische Schweiz-Osterzgebirge etwa zeigte bereits Anfang November drei Heimbetreiber an, in deren Einrichtungen Covid-19 überproportional gehäuft auftrat. Der Verdacht: Die Hygienepläne seien nicht ordnungsgemäß erstellt oder umgesetzt wurden. Nach Informationen von Sächsische.de richtete sich der Vorwurf gegen drei Heime in Freital. Der Dresdner Oberstaatsanwalt Jürgen Schmidt sagt, die vom Landratsamt als Zeugen benannten Mitarbeiterinnen hätten ausgesagt, bei der Kontrolle der Einrichtungen seien keine gravierenden Hygienemängel festgestellt worden. Was denn nun? Das Landratsamt Pirna wollte sich „aufgrund des laufenden Verfahrens“ nicht äußern.
Einer der von der Polizei befragten Heimbetreiber ist Torsten Wagner von der Soziale Dienste Pesterwitz GmbH in Freital. Er vermutet, die Vorgehensweise des Landratsamts könnte der Versuch sein, sich eventuellen Haftungsfragen zu entziehen. „Zu den Höchstzeiten hatten wir um die 30 Infektionen im Heim, da haben wir manchmal mehrere Tage auf die Testergebnisse gewartet.“

Dietmar D. hingegen glaubt, dass im Fall seiner Mutter zu spät getestet wurde. Ausweislich ihres Totenscheins traten bei ihr bereits am 7. Dezember Erkältungssymptome auf. Doch die Testungen von Bewohnern und Pflegepersonal in der Demenzabteilung des Heims seien erst zehn, elf Tage später erfolgt. Bei Gisela D. erfolgte laut Arzt tatsächlich erst am 16. Dezember ein Test mit positivem Ergebnis. „Corona hätte man wesentlich früher feststellen können, wenn man rechtzeitig regelmäßig getestet hätte“, sagt er. In der Nacht vom 17. zum 18. Dezember konstatiert die Ärztin eine „dramatische Verschlechterung“. Gisela D. stirbt morgens um fünf Uhr.
Wer also haftet, wenn etwas schiefläuft mit den Tests, den Konzepten, der Hygiene? „Das lässt sich nicht pauschal beantworten“, antwortet das Gesundheitsministerium. „Hier kommt es immer auf die konkreten Umstände des Einzelfalles an.“ Anhand aller Umstände müsse geprüft werden, „ob und durch wen gegebenenfalls ein Schaden schuldhaft verursacht wurde“.
Beim Schutz der Pflegeheime gibt es nach wie vor viele Ungereimtheiten. Die Leiterin einer Senioreneinrichtung im Erzgebirge etwa sagte der Zeitung Freie Presse, diverse ihrer Mitarbeiter würden die Schnelltests ablehnen. Der RBB berichtete von einem Fall, in der ein Zeitarbeitspfleger mehrfach seinen Einsatzort wechselte, ohne getestet zu werden. Er ließ sich schließlich in Eigeninitiative testen – und war positiv.

Bei einer Umfrage von Sächsische.de unter den größten Heimbetreibers Sachsens äußern einige ihren Unmut über externe Dienstleister. Beim Deutschen Roten Kreuz etwa heißt es, Therapeuten, Bestatter oder Dienstleister wie Handwerker und Reinigungskräfte hätten „nicht immer Verständnis dafür, dass sie als Besucher verpflichtend getestet werden oder einen negativen Test nachweisen müssen“. Das Oberlausitzer Pflegeunternehmen OLPK merkt an: „Es gibt Unbelehrbare, die weder Maske tragen noch sich testen lassen wollen.“ Der private Betreiber Pro Seniore sieht bei Handwerkern „etwas mehr Aufklärungsbedarf hinsichtlich der Durchführung der Schnelltests“. Die Arbeiterwohlfahrt stellt fest: „Mitunter verweigerte sogar medizinisches Fachpersonal Schnelltests, so kam es teilweise zu Engpässen bei notwendigen Therapien.“
Eine weitere Großbaustelle bei der Umsetzung des Corona-Schutzes für Seniorenheime ist die Kontrolle. Treffendes Beispiel ist der Landkreis Görlitz. Die Region an der Neiße hat die höchste Corona-Sterberate der gesamten Republik. 364 Todesfälle je 100.000 Einwohner sind es derzeit. Landrat Bernd Lange zufolge sind lediglich vier von etwa 80 Einrichtungen bis Anfang Januar von Corona verschont geblieben. Regelmäßige Kontrollen, ob in den Heimen die Hygienekonzepte eingehalten würden, erfolgten durch den Landkreis nicht, sagt er. Das sei Aufgabe der Heimaufsicht des Freistaates.
Dem Gesundheitsministerium zufolge aber sind die örtlichen Gesundheits- und Ordnungsämter zuständig. Nur „in angezeigten Fällen“ seien die Besuchsregelungen und Hygienekonzepte auch Bestandteil „anlassbezogener Kontrollen durch die Heimaufsicht und den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung“. Das Tragen von FFP2-Masken sei zudem Teil der Arbeitsschutzkontrollen durch die Arbeitsschutzbehörde.
Letztere arbeitet mit 173 Leuten als eigene Abteilung bei der Landesdirektion Sachsen, die wiederum dem Wirtschaftsministerium unterstellt ist. Das teilt mit, der staatliche Arbeitsschutz sei mitnichten „für die Kontrolle von Besuchs- und Hygienekonzepten“ in den Heimen zuständig. Auch die Heimaufsicht, die beim Kommunalen Sozialverband Sachsen angesiedelt ist, betont, sie sei „formell nicht für die Kontrollen der Regelungen zuständig“. Der Medizinische Dienst teilt lapidar mit, Hygiene und Kontrolle der Verordnung fielen nicht in seinen Zuständigkeitsbereich.

Bis zu seiner Rente hatte Dietmar D. als Fallmanager für Reha-Maßnahmen bei der Arbeitsagentur in Dresden gearbeitet. Ende Oktober, Anfang November bot er sich als Hilfsperson für Schnelltests an. Er versichert, das Gesundheitsamt habe ihm daraufhin telefonisch mitgeteilt: „Hilfskräfte von außen einzustellen, wäre zu kompliziert.“
Mitte Januar forderte die Bundesregierung die Landkreise und kreisfreien Städte auf, ihren Personalbedarf für Schnelltests in Alten- und Pflegeheimen an die Bundesagentur für Arbeit zu melden. Kurz darauf wurden zusätzlich eine Webseite und eine Hotline geschaltet, um Tausende freiwillige Helfer zu rekrutieren. Binnen zwei Wochen registrierten sich rund 2.400 Bewerber. Die Landkreise Görlitz, Meißen und Zwickau sowie die Stadt Dresden haben allerdings der Webseite der Agentur zufolge derzeit gar keinen Bedarf.
Auch bei der Gratishilfe der Bundeswehr hakte es. Dem Verteidigungsministerium zufolge waren in Sachsen bis Anfang Februar 318 Soldaten bei Gesundheitsämtern im Einsatz, 147 halfen beim Impfen. In den Pflegeheimen des Freistaats waren lediglich 75 Soldaten tätig. Die Schnelltestungen im Freistaat unterstützten sogar nur 37 Soldaten, so wenig wie in keinem anderen Bundesland.

Dietmar D. fragt sich bis heute, ob der Corona-Tod seiner Mutter vermeidbar war. Auf der Trauerfeier sagt er: „Danke Mutti. Du hast mich gelehrt, nicht zu kuschen, sondern zu kämpfen.“ Der 63-Jährige wirft den politisch Verantwortlichen Versagen beim Schutz der alten Menschen vor.
Mittlerweile haben nahezu alle Bewohner von sächsischen Pflegeeinrichtungen nach Angaben des Gesundheitsministerium zumindest ihre erste Impfung erhalten. „Zusätzliche Maßnahmen zur Beschleunigung werden derzeit erarbeitet.“ Der letzte Impftermin in den Heimen werde voraussichtlich Mitte März stattfinden.

Die Bewohner sind das eine, die Beschäftigten der Altenpflege das andere. Einer Umfrage von Sächsische.de unter großen sächsischen Heimbetreibern zufolge lässt die Impfbereitschaft beim Personal Wünsche offen. Berichte über bislang unerklärliche Ausbrüche von Covid-19 trotz zweier Impfungen wie in einigen Heimen der niedersächsischen Caritas oder in Einrichtungen des hessischen Main-Kinzig-Kreises trügen nicht wirklich zur Beruhigung bei.
Für Gisela D. kam die Impfdebatte ohnehin zu spät. Auf dem Weg zur Urnenanlage begleitet ein Trompeter den Trauerzug. Die Urne mit ihrer Asche trägt der Bestatter vornweg. Ihre letzte Ruhestätte ist ein kleines Loch unter vier Kiefern.

Ihr Sohn Dietmar hat immer noch Fragen. Elf Tage vor dem Tod der Mutter hatte er auch welche an Dresdens Sozialbürgermeisterin Kristin Kaufmann von den Linken geschickt. Zweieinhalb Monate später hat er immer noch keine Antwort erhalten. Mit Ausnahme einer automatisierten Replik: „Danke für Ihre E-Mail. Aufgrund der Vielzahl von Anfragen ist es uns aktuell leider nicht möglich, Ihnen kurzfristig zu antworten. Wir haben jedoch auf www.dresden.de/corona eine Vielzahl von Informationen für Sie bereitgestellt.“