Das kleine Wunder vom Kreis Görlitz

Als Landrat Bernd Lange am Dienstagmorgen die Zahlen vom Robert-Koch-Institut sieht, kann er es kaum fassen. Der 7-Tage-Inzidenzwert ist auf 96,9 gesunken. Zwei Tage lag er über 100, alle fürchteten, dass er am Dienstag den dritten Tag in Folge die Marke reißen würde. Das hätte die Rücknahme vieler Lockerungen und absehbare Schließungen von Geschäften und Tierpark sowie Museen zur Folge.
Doch dann dieses kleine Wunder vom Kreis Görlitz. Auf "wundersame Weise" sei die Zahl gesunken, sagt Landrat Bernd Lange vor Journalisten später, aber erklären könne er das nicht. "Ich kapiere das nicht", sagt er. "Aber ich nehme es mit Freude zur Kenntnis." Lange ist anzumerken, wie schwer er sich getan hätte, ab Donnerstag wieder große Teile des Einzelhandels zu schließen, Ausgangsbeschränkungen und Alkoholverbot erneut einzuführen, Kontaktreduzierungen auszusprechen. Nun ist dieser Kelch vorerst an ihm vorbeigegangen. Am Mittwoch beginnt die Zählung wieder von Null.
Frühestens am Freitag könnte die Inzidenz wieder drei Tage über 100 liegen, dann müssten der Handel, der Tierpark und die Museen am Montag schließen. Die Schulen, so weit der Freistaat nichts anderes festlegt, sowie die Kitas haben hingegen auf jeden Fall bis zum Freitag nächster Woche und damit dem Beginn der Osterferien auf.

Dass das Durchatmen nicht lange andauern wird, wird am Dienstagnachmittag bei den neuesten Infektionszahlen des Kreis-Gesundheitsamtes deutlich. 71 Neuinfektionen, vor einer Woche waren es 46. Die Inzidenz des Kreises steigt auf 119. Zwei weitere Todesfälle, so dass die Gesamtzahl auf 980 steigt, zehn weitere britische Mutationen.
Schulen und Kitas treiben die Pandemie
Landrat Bernd Lange hält sich deswegen auch nicht lange beim zwischenzeitlichen Durchatmen auf. Zu wach sind noch die Erinnerungen an die Versuche übers Wochenende, den Freistaat zum Verschieben der Schulöffnungen zu bewegen, da die Testpflicht in den Schulen wegen fehlender Tests nicht abgesichert werden konnte. Noch Sonntagmittag sprach Lange mit Kultusminister Christian Piwarz. Doch Sachsen hielt an der Öffnung fest. Auch am Dienstag verweist Piwarz in Dresden vor Journalisten auf die Infektionszahlen aus den Schulen im Kreis Görlitz: vom 2. bis zum 16. März seien es 38 Infektionen bei Schülern und fünf bei Lehrern gewesen. Also nicht viel. "Ich halte das für falsch", entgegnet Lange.
Und verweist seinerseits auf die Zahlen seines Kreis-Gesundheitsamtes. Demnach sind Schulen und Kitas Treiber der Pandemie im Kreis Görlitz momentan. Von knapp 800 Kontaktpersonen am Montag, die derzeit zu Hause in Quarantäne sitzen, können 310 auf Corona-Ausbrüche in Schulen und Kitas zurückgeführt werden. Ein ganz ähnliches Bild bei der britischen Virus-Mutation. In Schulen und Kitas sind bis Montagabend 32 Mutationen nachgewiesen worden, im Landkreis waren es seit Ende Januar 94 britische Virus-Fälle.
So kommen gleich zwei Entwicklungen zusammen: In Kitas und Schulen, wo die Abstände ohnehin nur mit Schwierigkeiten eingehalten werden, grassiert das britische Virus, das als ansteckender gilt als der bisherige Coronavirus. Die doppelte Gefahr beunruhigt den Görlitzer Landrat und seinen Stab. Immerhin sind 15 Schulen und zwölf Kitas von den Corona-Ausbrüchen der vergangenen zwei Wochen betroffen, in der Diesterwegschule in Görlitz ist nach Angaben des Kreises eine ganze Klasse nach Hause geschickt worden, unter den Kitas erwischte es Einrichtungen in Gablenz und Kodersdorf am schwersten. Beide Gemeinden stehen folgerichtig mit einem 7-Tage-Inzidenzwert von 1.100 und 826 an der Spitze unter den Kommunen im Landkreis.
Landrat will Risikowert statt Inzidenzwert
Was Landrat Bernd Lange mindestens so ärgert wie die Schulöffnung ist die Konzentration auf den Inzidenzwert als einziges Kriterium für Öffnungen und Schließungen. Seit Wochen plädiert er gemeinsam mit seiner Sozialbeigeordneten Martina Weber dafür, auch die Auslastung von Intensivbetten und den Schweregrad der Erkrankungen zu berücksichtigen.
Da ist er ganz nah beim Vize-Ministerpäsidenten von Niedersachsen, Bernd Althusmann, der am Dienstag die Einführung eines Risikowertes an die Stelle des Inzidenzwertes fordert. Auch Althusmann will, dass die Lage in den Kliniken und der Schweregrad der Infektionen mit der Inzidenz in den neuen Wert einfließen. "Wenn wir jetzt mehr testen, steigt die Inzidenz sowieso", ist Lange überzeugt. "Aber diese höhere Inzidenz ist doch nicht mehr mit der Inzidenz vom November oder Dezember zu vergleichen, als die Dunkelziffer viel höher lag".
Für den Landkreis würde das bedeuten, dass mindestens die jetzt gewährten Lockerungen beibehalten werden können, bis wieder 240 Normalbetten und 18 Intensivbetten von Covid-19-Patienten belegt sind - auch wenn die Inzidenz über 100 liegt. Am Dienstag gab das Kreis-Gesundheitsamt die Lage in den Krankenhäusern wie folgt an: 78 Patienten auf Normalstation, zwölf auf den Intensivstationen.
Unzufriedenheit unter Geschäftsinhabern wächst

Die Unzufriedenheit mit der Corona-Strategie ist auch bei den Geschäftsinhabern zu spüren. Für die Händler und Dienstleister, ist ihr Wunder, nach so langer Zeit wieder öffnen zu dürfen, eigentlich schon wieder vorbei. Annett Krause betreibt in Görlitz auf der Brüderstraße das Modegeschäft BioVivo, wo sie ökologisch faire Mode verkauft. Normalerweise. Nach Monaten im Lockdown kann sie jetzt zwar auch Click & Meet anbieten, doch so richtig funktioniere das nicht, nur vereinzelt machten Kunden davon Gebrauch. Das einzig wahre Ziel und wohl auch Wunder wäre für Annett Krause die vollständige Öffnung ihres Ladens. Dass das aber Ostern schon der Fall sein wird, glaubt sie längst nicht mehr und räumt ein: „Ich bin inzwischen in eine Negativstimmung gerutscht.“ Das wiederum ist kein Wunder, komme sie doch auch finanziell langsam in die Bredouille. Schließlich musste die jetzt angebotene Frühjahrsmode schon im letzten Sommer bestellt und jetzt auch bezahlt werden.
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