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Kretschmer denkt an noch härtere Corona-Regeln

Was, wenn die Zahlen nicht sinken? Im Interview spricht der Ministerpräsident über die nächsten Maßnahmen, sollten die aktuellen nicht reichen.

Von Fabian Deicke & Annette Binninger
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Sachsens Regierungschef Michael Kretschmer stellt strengere Corona-Regeln in Aussicht, sollten die Zahlen in den nächsten zwei Wochen nicht sinken..
Sachsens Regierungschef Michael Kretschmer stellt strengere Corona-Regeln in Aussicht, sollten die Zahlen in den nächsten zwei Wochen nicht sinken.. © dpa

Dresden. Sachsen hat alle anderen Bundesländer überholt und steht in der Corona-Statistik oben. Fünf sächsische Landkreise befinden sich in der bundesweiten Übersicht der Inzidenz-Zahlen aktuell sogar unter den Top 10. Die Lage ist ernst. Darüber, wie die Situation wieder unter Kontrolle gebracht soll und was droht, wenn das nicht gelingt, spricht Ministerpräsident Michael Kretschmer mit Sächsische.de.

Herr Kretschmer, wie oft haben Sie sich schon gefragt, ob Sie zu lange gewartet haben, bis die Zahl der Corona-Infektionen so rasant gestiegen ist, dass Sachsen das Schlusslicht einer bedrohlichen Entwicklung in Deutschland geworden ist?

Sehr oft. Natürlich frage ich mich immer wieder, ob wir die Regeln früher hätten verschärfen müssen.

Noch im September gab es eine nur geringe Corona-Fall-Dichte im Freistaat. Haben Sie mal zurückverfolgt, wann und warum sich die Entwicklung sich gedreht hat?

Es war richtig, dass wir im Sommer die Möglichkeiten des niedrigen Infektionsgeschehen genutzt haben. Wir hatten damals sehr niedrige Zahlen. Aber wir haben die Kraft des Virus mit Beginn der Herbst- und Winterzeit, in der man sich wieder mehr in Innenräumen aufhält, unterschätzt. Darum mussten wir jetzt handeln.

Das Gespräch wurde im CoronaCast, dem Podcast von Sächsische.de zur Pandemie, geführt. Hören Sie sich die Folge über den Player an oder lesen Sie das ganze Interview.

Warum nicht zwei oder drei Wochen früher?

Das wäre besser gewesen. Aber wir haben versucht, auf anderem Weg die Zahlen zu senken, beispielsweise durch mehr Personal in den Gesundheitsämtern, um die Infektionsketten besser zurückverfolgen zu können. Aber all das hat nicht den erwünschten Erfolg gebracht. Darum ist Sachsen jetzt das Land mit den härtesten Maßnahmen zum Schutz vor Corona.

Laut einer Umfrage hält ein Viertel der Sachsen Masken und Abstandsregeln für sinnlos. Sehen Sie darin einen Zusammenhang zu den hohen Infektionszahlen in Sachsen?

Wir hatten eine sehr komfortable Situation im Sommer, im Gegensatz zu vielen damals hart betroffenen Landstrichen in Deutschland. Wir mussten uns nur wenig Sorgen machen. Der Weg ist darum jetzt mental viel länger für uns, diese stark veränderte Situation jetzt zu akzeptieren. Aber jetzt müssen alle aufwachen. Die Krankenhäuser sind voll. Wir kommen so nicht durch die Winter. Wenn wir weitere, sehr restriktive Maßnahmen verhindern wollen, muss es mit dem jetzigen Maßnahmenpaket klappen.

Haben Sie zu lange auf die Eigenverantwortung der Bürger gesetzt und ihnen dadurch indirekt das Gefühl gegeben, dass die Situation doch nicht so ernst ist.

Ich bin auch heute noch für Eigenverantwortung. Das Ganze ist nur zu schaffen, wenn die aktuellen Regeln von jedem verinnerlicht werden. Wir geben nur eine Richtung vor, auch durch die Schließung in gewissen Bereichen, haben wir einen Kompromiss gefunden, was für den Freistaat finanzierbar ist; aber auch, was für die Lebensqualität der Menschen gerade noch hinnehmbar ist. Ich halte es für falsch, immer an die Grenzen dessen zu gehen, was möglich ist. Darum sage ich jedem: Bleiben Sie zuhause! Ich gehe Weihnachten auch nicht in die Kirche. Ich würde die Einkäufe beim Einzelhandel machen, die sein müssen, damit man nicht alles online bestellt. Aber, was jetzt nicht sein muss, das muss man jetzt auch nicht machen.

Sie sagten gerade, es gehe auch darum, was sich der Freistaat finanziell leisten könne – was meinen Sie damit?

Der Bund zahlt im Dezember noch die Ausfälle der Wirtschaftsbetriebe, die vorübergehend schließen müssen. Wenn wir es bis Weihnachten nicht schaffen, die Zahlen zu senken, dann werden wir im Januar zu rigorosen Maßnahmen greifen müssen. Die Ausfälle müssten die Betriebe dann allein stemmen, auch ohne Entschädigung. Dass Weihnachten nicht bis an die Grenzen des Möglichen gegangen wird, was Feiern angeht – auch nicht im Familienkreis.

Ein Alleingang mit noch wesentlich härteren Maßnahmen als sonst in Deutschland, wenn die Zahlen nicht sinken, käme für Sie aber nicht infrage?

Doch. Wir müssen die Menschen schützen. Das sind wir den Ärzten und Pflegkräften schuldig. Sie leisten übermenschliches, das geht nicht auf Dauer. Wir schauen uns das Geschehen jetzt zwei Wochen an. Bis dahin muss es gelungen sein, die Zahlen zu senken. Ansonsten bleibt nichts Anderes übrig, als Kindergärten und Schulen komplett zu schließen und auch den Geschäftsbetrieb bis auf Lebensmittel zu unterbrechen. Anders ist die Lage sonst nicht mehr in den Griff zu bekommen. Mit diesen Zahlen werden wir die medizinische Versorgung über den Winter nicht sichern können.

Gibt es für Sie einen bestimmten Zahlenwert, eine bestimmte Inzidenz, die Sie als Marke gesetzt haben, die erreicht sein muss, damit dieser Szenario nicht wahr wird? (Anm.: Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner im Sieben-Tages-Schnitt)

Wir müssen deutlich unter die 200, aus meiner Sicht sogar deutlich unter die 100. Wenn wir auf dem Weg dahin sind, kann man über Vieles reden. Das ist nicht nur meine Entscheidung, sondern die der gesamten Staatsregierung, in Absprache auch mit Landräten und Bürgermeistern. Ich möchte, dass die Menschen, die in diesem Land leben, geschützt werden und nicht dieser Pandemie ausgeliefert sind ohne ausreichende medizinische Hilfe. Das dürfen wir nicht zulassen.

Warum lassen Sie es dann zu, dass auch die neuen Regeln sofort wieder „verwässert“ werden durch Ausnahmen und Sonderregeln in einzelnen Kreisen oder Städten? So dürfen etwa Hotels über Weihnachten öffnen für Verwandtenbesuche. Oder wer im Landkreis Bautzen wohnt, darf auch nach Dresden einkaufen fahren.

Das mit den Hotels haben die Bundesländer miteinander so verabredet. Es geht nicht um touristische Nutzung, sondern um Familienbesuche. Das ist aus meiner Sicht völlig in Ordnung. Und sonst haben wir jetzt in allen Landkreisen die gleichen Regeln, Und die sind doch ganz klar: So wenige Kontakte wie möglich. Haus und Wohnung nur verlassen, wenn nötig. Im eigenen Landkreis bleiben. Alkoholverbot in der Öffentlichkeit. Das sind die wichtigsten Regeln.

Die Verwirrung beginnt doch mit den Ausnahmen. Bleiben wir bei dem Beispiel Bautzen.

Das ist ein Kompromiss in der Staatsregierung gewesen, darum trage ich ihn mit, auch wenn ich es anders gemacht hätte. Und trotzdem sage ich: Machen Sie es nicht, bleiben Sie zuhause. Halten sie Abstand! Wir sind nicht dafür gemacht, 1,50 Meter Abstand zu halten. Niemand ist davor gefeit, leichtfertig zu sein. Auch ich nicht. Aber jetzt müssen wir alle unsere Kraft zusammennehmen.

Aber müsste es dann nicht auch mehr sichtbare Kontrollen geben?

Die wird es geben. Aber das ist auch schwerer geworden. Die Geschäfte sind im Gegensatz zum ersten Lockdown im Frühjahr offen. Damit hat man jetzt in der Innenstadt eine Frequenz, die es so im Frühjahr nicht gab. Aber wir werden solche Bilder von Massen-Wanderungen in Seiffen wie am vergangenen Wochenende nicht mehr zulassen. Die Polizei wird dort kontrollieren. Wer aus einem zu weit entfernten Landkreis kommt, dem droht ein Bußgeld und er wird zurückgeschickt. Das geht nicht anders. Auch an der B96 werden wir kontrollieren.

Welche Hinweise bekommen sie aktuell aus den Krankenhäusern? Man hört, dass angesichts der aktuellen Dynamik Mitte/Ende Dezember die Kapazitätsgrenzen an Personal und Betten in Sachsen erreicht sein könnten.

Ja, die Lage ist ernst. Etliche Krankenhäuser haben bereits Operationen abgesagt und verschoben. Sie halten Betten frei für mögliche Corona-Patienten. Wir sind es den Ärzten und Pflegekräften schuldig, für eine Situation zu sorgen, die nicht absolut am Limit ist. Es darf nicht sein, dass nur noch der letzte Tropfen fehlt, bis das Fass überläuft.

Glauben Sie, wenige Tage nach Beschluss der seit Dienstag geltenden neuen Corona-Verordnung für Sachsen, dass diese Maßnahmen ausreichen werden, um die Situation wieder in den Griff zu bekommen?

Es sind die gleichen Maßnahmen wie im besonders hart betroffenen Berchtesgadener Land. Dort hat es zu einer deutlichen Reduzierung gereicht. Darum hoffe ich, dass es hier auch reicht.

Aber Sie drohen schon sehr deutlich, wenn das nicht reicht, dann kommt der harte Lockdown – inklusive der Schließung der Kindergärten und Schulen.

Ich drohe nicht.

Aber Sie sagen, was passiert, was kommen wird, wenn die ganzen Maßnahmen jetzt nicht zum Ziel führen.

Ich habe eine Frage beantwortet. Und ich bin ein ehrlicher Mensch. Auch bei unangenehmen Dingen. Zur Wahrheit gehört aber auch: Es gibt keine Alternative, wenn wir es nicht schaffen. Die Situation in den Krankenhäusern zwingt uns, die Zahlen zu reduzieren. Darum muss, wenn das Alles jetzt nicht wirkt, am Ende noch etwas Zusätzliches kommen. Da haben wir aber nicht mehr viele Möglichkeiten. Man kann es auch durchdeklinieren. Die Schließung von Geschäften wäre unglaublich teuer, das werden wir uns nicht leisten können. Die Schließung von Kindergärten ist leicht für uns zu finanzieren. Die Schließung von Schulen wäre bitter, weil wir doch mehr in die Bildung investieren wollen, aber leistbar. Darum würden wir mit diesen Maßnahmen auf jeden Fall beginnen müssen. Aber wir wollen es nicht.

Könnte es bei gleichbleibender Entwicklung auch passieren, dass die für Weihnachten geplanten Lockerungen doch nicht kommen?

Man soll in dieser Zeit nie nie sagen. Aber ich glaube, dass gerade dieses Weihnachten für viele Menschen sehr wichtig ist. Ein übergroßer Teil hält sich an die Regeln, gerade die dürfen wir nicht überfordern. Weihnachten ist ein Fest der Familie. Aber bis dahin müssen wir eine deutliche Verbesserung erreichen.

Dann brauchen wir über Lockerungen dieser Regeln vorerst gar nicht erst zu reden?

Anfang Januar werden wir wieder mit der Bundesregierung sprechen. Ich hoffe, dass wir dann mehr wissen. Aber ich bin da vorsichtig. Wenn alles gut läuft, können wir Gaststätten und Hotels im Januar wieder erlauben zu öffnen. Für den Bereich der Kultur werden wir sicher noch einen längeren Atem brauchen. Ich sehe da eher Anfang April, bis die Einrichtungen wieder öffnen können.

Was macht Ihnen Hoffnung in diesen Tagen?

Ich begegne sehr vielen Menschen. Und ich erinnere mich an eine Pflegekraft, die völlig überlastet ist, aber nicht aufgibt. An einen Arzt, der gerade um jeden Corona-Patienten bis zur Erschöpfung kämpft. Ich weiß, sie geben Alles, dort, wo sie arbeiten. Das gibt mir Hoffnung. Diesen Menschen sollten wir gemeinsam eine Entlastung bringen.

Das Interview führten Annette Binninger und Fabian Deicke.