Händler in Sachsen: Werden wir überleben?

Hans-Ulrich Leonhardt nippt an einer filigranen Tasse mit Rosenmuster. Erstarrte Gesichter blicken von Gemälden durch einen salbeigrünen Raum auf ihn hinab. Leonhardt schlägt seine Beine auf einem champagnerfarbenen Sessel übereinander und sagt: „Wenn mir der Lockdown früher passiert wäre, hätte ich aufgeben müssen.“ Der 69-jährige Görlitzer handelt seit fast 30 Jahren mit Antiquitäten. Voluminöse Kredite mit hohen Zinsen haben ihn lange belastet, nach der Finanzkrise 2008 verlor er die halbe Kundschaft, durch günstige Konkurrenz auf Ebay gewann er sie nur teilweise zurück. Und doch: Der Corona-Lockdown, er sei mit nichts zu vergleichen.
Seit 14. Dezember 2020, kurz vor der sonst umsatzstärksten Phase im Jahr, dürfen in Sachsen nur noch Läden öffnen, die Produkte für den täglichen Gebrauch wie Kraftstoff, Schnaps oder Shampoo verkaufen. Seit 16. Dezember gilt das bundesweit. Die unkontrollierbaren Infektionen, die Horrorszenarien auf Intensivstationen, sie forderten harte Mittel. Im neuen Jahr wird der Protest dagegen lauter. In Städten wie Dippoldiswalde weisen Händler mit regelmäßigen Aktionen auf ihre Misere hin. Manche haben unter dem Motto „Wir machen auf“ bundesweit zur illegalen Ladenöffnung aufgerufen. Andere distanzierten sich davon, riefen dafür mit dem Slogan „Wir machen aufmerksam“ um Hilfe.
Öffnungsperspektiven gibt es bisher genauso wenig wie Hilfen abseits des Kurzarbeitergeldes – und selbst das haben viele Händlerinnen und Händler bislang vorgestreckt, ohne es zurückzuerhalten.
Leonhardt hat keine Mitarbeiter, nur seine Frau hilft aus. Seine Kredite hat er weitgehend abbezahlt, das Haus in der Stadt gehört ihm. Für die Rente, sagt er, genüge das Angehäufte aber noch nicht.

Holz, Glas und Porzellan malen ein museales Bild in seinen Laden, ab und zu blitzt ein Glitzerstein hervor. Vor dem Schaufenster liegt die Innenstadt, dahinter ist es selbst jetzt nicht ganz still. Über der Theke tickt eine Hängeuhr so hastig, als wolle sie die sonoren Gongs der Standuhr übertrumpfen. Aus einem zartbitterfarbenen Schreibtisch lässt Leonhardt eine Schublade gleiten, streicht mit der Hand über das Holz. Vier Tage lang hat er den Tisch geputzt und geschliffen, lackiert und getrocknet. „Ich verbringe meine Tage nicht voller Verzweiflung mit einer Bierflasche vor dem Fernseher, sondern bei meiner Berufung, dem Restaurieren.“
Das Ergebnis seiner Arbeit kostet Geld. Einen Bruchteil dessen, was man für solche Stücke in Paris zahlen würde, insistiert er. Und doch dürften viele Budgets überfordert sein, gerade jetzt, da Gehälter schrumpfen oder ausfallen. 1.280 Euro soll der Tisch kosten, der Barschrank im Schaufenster, ein Designer-Unikat, 18.000.
Ausgleichszahlungen können keine Lösung sein
Corona hat eine Tendenz beschleunigt, die sich schon vorher abzeichnete: Während der Umsatz des stationären Einzelhandels im Dezember 2020 je nach Branche im Vergleich zum Vorjahr um bis zu 40 Prozent einbrach, stieg der des Online-Handels um fast ein Drittel. „Der Homo Sapiens verkommt zum Homo Digitales, der sich nicht mehr mit Büchern und Museen befasst, sondern nur noch vor dem Bildschirm sitzt“, sagt Leonhardt.
Bei aller kulturbürgerlichen Höflichkeit macht Leonhardt seine Wut doch deutlich: „Nach dem Lockdown bricht eine Welt zusammen. Das zieht gewaltige Verluste nach sich. Wer soll so viele Arbeitslose bezahlen?“ Ausgleichszahlungen, meint der gelernte Restaurator, könnten keine Lösung sein. „Wir werden Generationen brauchen, um alles zurückzuzahlen. Ich fordere das Ende des Lockdowns. Wenn kein Wunder passiert, wird 2021 ein Jahr, das für alle einen tiefen Einschnitt in der wirtschaftlichen Situation hinterlässt. Die Profiteure, Amazon und ähnliche, sitzen woanders.“

Hendrik Dietrich versucht, die Hoffnung zu bewahren. In der Dresdner Neustadt betreibt er „Catapult, einen Laden für außergewöhnliche Geschenke“. Die Situation des 50-Jährigen ist finsterer als die des Görlitzer Kollegen. Die Neustadt, wo sich trockengelegte Kneipengänger, Bioladenbesucher und Kinder mit Namen wie Ruben oder Emma tummeln, ist beliebt – und das heißt: teure Mieten. Außerdem hat Dietrich noch nichts von dem vorgeschossenen Kurzarbeitergeld zurückbekommen. Ob er die Krise überleben wird? Dietrich zuckt mit den Schultern. Für trübselige Gedanken ist er zu beschäftigt. Er wuselt zwischen Kartons mit „Corona Care Paket“-Stickern umher.
Seit vergangenem Frühjahr verkauft er Ware auch über einen Onlineshop. Die Care-Pakete laufen dort gut. „Das orientiert sich ein bisschen an der Berliner Luftbrücke“, sagt er vergnügt und zählt die Varianten auf: Es gibt eins mit Chips und Kamm fürs Homeoffice und eins mit Putzlappen-Schuhen und Würfel-Trinkspiel für WGs, eins mit „Dr. Osten Schluckimpfung“ und „Langer Atem“-Seifenblasen als Schutz gegen Corona und ein Survival-Kit mit Kopfmassierer, Seuchen-Quartett und Schokoladen-Ufos, die sich „Kontakt-Linsen“ nennen.
„Der Corona-Scheiß hat unseren Onlineshop richtig befeuert.“ Viele Bestellungen gehen nach Dresden, einige nach Köln, München, Österreich, Belgien oder die Schweiz. „Der absolute Renner“, sagt Dietrich und flitzt in eine andere Ecke, „sind unsere Glückskekse mit Sprüchen auf Sächsisch. Das ist der Bestseller, auch finanziell. Einer kostet 1,50 Euro, das nehmen die Leute schnell mal mit.“ Artikel wie die Kekse und die DDR-Wundertüten mit Schlager-Süßtafeln und Badusan produzieren Dietrich und sein Compagnon selbst, andere finden sie auf Messen. „Wir müssen schneller sein als die großen Ketten, das ist unsre Marktlücke. Die nehmen viel mehr ab, können es günstiger verkaufen.“
Ein super Jahr, sobald die Öffnung durchgezogen wird
Er schlängelt sich quer durch den Laden. Es gibt Geschenke für Kinder vom Embryo bis zum Abiturienten, für hetero- und homosexuelle Hochzeiten, für Männer, Frauen, Scherzkekse, Intellektuelle – alle. Kleine Kästen mit 30-Tage-Challenges für mehr Nachhaltigkeit, Veganismus, bessere Fotos auf Instagram oder weniger Materialismus im Leben, neu aufgesetzte Märchenbücher mit schweren Seiten und viel Malerei, Bierbrau-Sets.
„Wir haben einen super Sommer hinter uns“, sagt Dietrich. Der Umsatz wuchs um bis zu 30 Prozent, „teilweise sind wir aus allen Wolken gefallen. Das lag am Inlandstourismus. Das waren auch nicht unbedingt Pauschalreisende, die nur zur Frauenkirche rennen, sondern viele Individualreisende, die sich auch mal die Neustadt angucken. Das hat die Umsatzverluste des Frühjahrs ausgeglichen.“ Doch dann kam der Winter. „Zehn Tage Lockdown im Januar wären okay, zehn Tage vor Weihnachten könnten die Existenz kosten.“ Gerade in den zehn Tagen vor Weihnachten entscheide sich, ob der Laden aufs Jahr gerechnet Gewinn oder Verlust macht.
„Weihnachten ist im Einzelhandel sowieso wichtig, für uns ist es kriegsentscheidend, weil jeder Geschenke für mehrere Personen braucht. Wenn sie noch nichts gefunden haben, finden sie hier auf jeden Fall was.“ Immerhin online gab es im Dezember fast 1.000 Käufe. Im „Saure-Gurken-Monat“ Januar sieht das anders aus. Aber die Leute hätten das Bedürfnis, bald wieder zu feiern, sich und anderen Freude zu machen. Das werde seinem Laden helfen, sagt Dietrich. „Ich bin ein Grundoptimist. Ich möchte nicht den jammernden Einzelhändler geben. Ich denke, es wird ein super Jahr, sobald die Öffnung durchgezogen wird.“
200.000 Einzelhandelsunternehmen betroffen
Düsterer klingt die Prognose des Branchenverbandes. „Zahlreiche Geschäftsaufgaben drohen, wenn die Unternehmen keine wirksamen Wirtschaftshilfen erreichen“, mahnt René Glaser, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands in Sachsen. Reserven seien aufgebraucht, viele gingen an ihre Altersvorsorge. „Es drängt sich immer mehr der Eindruck auf, dass viele politische Entscheidungsträger die Bedeutung der Einzelhandelsbranche für die Volkswirtschaft nicht wirklich erkannt haben“ – auf Bundes- wie auf Landesebene. Die angekündigte Überbrückungshilfe müsse praxistauglich und konkret werden.
Bundesweit, so Glaser, seien 200.000 Einzelhandelsunternehmen vom Lockdown betroffen. „Es melden sich nahezu täglich Unternehmen bei uns – große, mittelständische wie kleine Unternehmen –, die vor der Krise wirtschaftlich kerngesund waren, solide gewirtschaftet haben und eine gute Perspektive hatten, jetzt aber vor dem Aus stehen oder Standorte schließen müssen.“

Ute Rietzschel hat an diesem trüben Vormittag das Licht in ihrem Laden angestellt, um Fotos aufzunehmen. „Ich habe nicht geöffnet. Mit diesen rechten Querdenker-Typen möchte ich nichts zu tun haben“, sagt sie. „Ich verkenne nicht, dass Corona ein großes Problem ist. Die Wirtschaft so an die Wand zu fahren, kann’s aber auch nicht sein.“ Die 63-Jährige betreibt eine Frauenboutique für große Größen in der Innenstadt von Pirna. Im April feiert sie 30. Jubiläum – vielleicht. „Hätte nie gedacht, dass ich nach zwei Hochwassern noch so was erlebe“, sagt sie. „Schon vor Corona war es für uns Einzelhändler schwer. Ich habe nicht mal einen Online-Handel. Ohne Stammkundschaft wäre ich jetzt völlig aufgeschmissen.“ In einer Whatsapp-Gruppe zeigt Rietzschel Fotos der Ware. Manche Stammkundin greift zu.
Die Textilbranche trifft der Lockdown besonders hart. Große Online-Anbieter profitieren, in kleinen Läden stapelt sich unverkaufte Winterware. „Beim normalen Schlussverkauf kommen die Leute, sehen neue Farben, nehmen ein reduziertes und ein neues Teil mit.“ Dass Restaurant- und Hotelbranche, nicht aber dem Handel Hilfen für die Zeit ab Lockdown-Beginn versprochen wurden, sei nicht nachvollziehbar. „Wenn sich alle an die Regeln gehalten hätten, wäre es natürlich nicht so schlimm geworden. Aber was können wir hier nicht, was eine Drogerie Rossmann kann?“

Ein dick eingepackter Mann schiebt Schnee vor dem Bautzener Rathaus weg. Ums Eck versperren eine Glastür und drei Stühle den Weg zum Traditions-Juwelier Scholze, dem neben der Filiale in der Innenstadt Läden in Einkaufszentren von Bautzen, Görlitz und Dresden gehören. Nur die schimmernden Ringe ragen aus der Dunkelheit im Inneren des Ladens hervor. Ivo Scholze sitzt an dem Tisch, wo er normalerweise Brautpaare berät. „Es ist schon katastrophal. Aber wir blicken trotzdem optimistisch ins neue Jahr. In einer internen Chatgruppe motivieren wir unsere Mitarbeiter.“ Seine Tage verbringt der 40-Jährige auch jetzt im Laden. Von 7 bis 18 oder 19 Uhr. Was sonst ein Team sich teilte, übernimmt er jetzt allein: den Onlineshop betreuen, mit Zahlen und Rechnungen jonglieren, Anrufe annehmen.
Caravan-Tourismus bringt Umsatz
Vor Corona startete im Januar die Hochzeitssaison. Wann Scholze dieses Jahr den ersten Ring anstecken wird? „Es würde mir gerade nichts bringen zu öffnen. Ich bin kein Bäcker, sondern Luxusgut. Mich braucht kein Mensch. Ich bin für diejenigen, die genug haben, noch was obendrauf. Man kommt gut ohne Ring morgens auf Arbeit und ist auch ohne Kette angezogen. Wir haben eine schöne, aber auch schwierige Branche.“
Wie schnell das umschlagen kann, erlebte Scholze nach der ersten Welle. „Die Leute haben Schlange gestanden, um schöne Sachen zu kaufen. Sie konnten nicht weg, mussten das Geld also in Deutschland ausgeben. Mit dem Caravan-Tourismus kommt auch eine ganz neue Gruppe nach Bautzen, die mehr Zeit hat.“
Vor zwei Jahren hat Scholze den Laden in fünfter Generation übernommen. Die restlichen 30 laufen wahrscheinlich besser als die ersten. Vielleicht schon bald. „Wenn die Temperaturen entsprechend sind, genug Leute sich impfen lassen, wird das schon“, sagt er. „Ich bin trotz allem froh, dass ich so einen schönen Job wie Uhrmacher ausüben darf.“