Als Corona vor einem Jahr begann, unser Leben auf den Kopf zu stellen, ahnten Suchtberater, dass sie bald mehr Arbeit bekommen. Das bestätigt sich jetzt mit den Zahlen von vergangenem Jahr. Schon im April/Mai gab es mehr Bedarf an der Beratung, viel davon telefonisch, sagt Dagmar Mohn, die Leiterin der Suchtberatung in Pirna. Zwischen September und November stiegen die Kontakte zu Klienten gegenüber dem Vorjahr deutlich. Trotz aller Einschränkungen im vergangenen Jahr stehen am Ende fast die gleichen Zahlen wie 2019. "Das ist schon erstaunlich", sagt Dagmar Mohn. "Wir hatten mit weniger gerechnet. Das heißt, in weniger Zeit haben wir intensiver mehr Menschen erreicht."
Möglicherweise gibt es einen Zusammenhang von Unruhe, Ängsten und Einschränkungen bei steigenden Infektionszahlen und Lockdown und dem Wunsch nach Beratung, Hilfe und Therapie. Das seien jedoch noch keine erwiesenen Fakten. "Dafür müssen wir später alle Zahlen aus Sachsen haben", sagt Dagmar Mohn. Laut einer europaweiten Umfrage im vergangenen Sommer ist der Alkoholkonsum in der Corona-Pandemie zwar zurückgegangen, nicht aber bei Menschen, die nach eigener Einschätzung beruflich oder finanziell unter den Corona-Auswirkungen leiden. In Deutschland waren das immerhin 17 Prozent der Befragten.
Klare Aussagen über die Auswirkungen von Corona und Suchtentwicklung werden erst in ein bis zwei Jahren möglich sein, meint Dagmar Mohn. Doch schon jetzt sei klar: Suchtkranke trifft es besonders und der Schritt in die Sucht ist kurz. Wie ist die aktuelle Situation und welche Tendenzen gibt es?
Schlechtes Internet erschwert Arbeit zusätzlich
Suchtberatung ist vor allem langfristige und kontinuierliche Arbeit. Und genau die ist seit Monaten nicht möglich. So mussten die Nachsorge- und die Motivationsgruppe wieder aufhören. Damit verschlechtert sich die Vorbereitung auf ambulante und stationäre Rehabilitationen, was wiederum die Kliniken bemerken und was sich schließlich auf den Behandlungserfolg auswirken kann. Nur die Gruppe "ambulante Rehabilitation" läuft online. "Was jedoch schwer ist, da im Landkreis das Internet schlecht ist und einige Leute überhaupt keine Möglichkeit dazu haben", sagt Dagmar Mohn. Wer neu zur Suchtberatung kommt, erlebt bereits einen großen Druck und will schnell Hilfe und Therapie. Hier fehlt vor allem die Motivationsgruppe sehr.
Den Patienten in Kliniken fehlen die Heimfahrten und Kontaktbesuche aus der Entgiftungsstation heraus. Selbst die Suchtberater dürfen nicht in die Kliniken. Damit fehlen die für die Kranken besonders wichtigen sozialen Kontakte. Es hat aber auch wiederum ganz praktische Auswirkungen. Die Beantragung von Rehabilitationen sowie die Vermittlung zurück in die Suchtberatung sind spürbar schwerer möglich, sagt Dagmar Mohn. Und das geht noch weiter. Bis hin zur schlechteren Vermittlung in Wohngemeinschaften, da die Interessenten sich die Einrichtungen vorher nicht ansehen können.
Erstmals Bereitschaftsdienst eingerichtet
Viele Klienten sitzen derzeit zuhause. Selbsthilfegruppen finden als persönliche Begegnung nicht statt, Weiterbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen sind ausgesetzt. Die Berater bemerken mehr Rückfälle. "Ob diese durch Corona verstärkt ausgelöst sind, lässt sich jedoch nicht kausal sagen", sagt Dagmar Mohn. Einige Menschen benennen Depressionen, andere zu hohen Stress bei der Arbeit zum Beispiel im Pflegebereich. "Das ist also genau so wie in der übrigen Bevölkerung, nur dass suchtkranke Menschen eben schon psychisch belastet oder krank sind und oft allgemein weniger Möglichkeiten haben."
Die Suchtberatung hat auf diese neuen Bedingungen reagiert. Erstmals wurde ein Wochenend- und Bereitschaftsdienst der Mitarbeiter eingerichtet. Über die Weihnachtsfeiertage und den Jahreswechsel wurden zudem die Bewohner der Nachsorgewohngemeinschaft einzeln angerufen. "Das war früher nicht nötig, da gab es Angebote der Kirchen für einsame Menschen, Kontaktcafés und ähnliches, was derzeit nicht stattfindet", sagt Dagmar Mohn.
Drogenhandel funktioniert offenbar weiter
In den Beratungen geht es zunehmend auch um Probleme, die über die Sucht hinausgehen. Finanzielle Probleme, fehlende Hilfsgelder, dadurch Schulden, keine Erreichbarkeit des Jobcenters , Überforderung durch die Kinder zu Hause, Zukunftsängste und immer wieder Resignation und Depressionen. Die Suchtberater fangen viele Fragen ab, da in den Behörden quasi Besuchersperre herrscht und zudem viel im Homeoffice gearbeitet wird.
Nur ein Problem spielt aktuell keine Rolle, könnte aber künftig zu einem noch größeren werden. Die eher jüngeren Drogenkonsumenten reagieren kaum depressiv, sagt Dagmar Mohn. Das ist aber keine gute Nachricht, denn: "Sie organisieren sich sozial auf ihre Weise, kommen trotz der Lage ohne Probleme an die Drogen heran und treffen sich wohl auch untereinander."
Kontakt: Telefon 03501 528646, E-Mail [email protected].
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