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Tschechien muss wieder mitziehen

Die östlichen Nachbarn Sachsens waren zu Beginn der Pandemie disziplinierter als die Deutschen. Jetzt fühlen wir uns von ihnen bedroht. Das kommt nicht von ungefähr.

Von Hans-Jörg Schmidt
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Die Corona-Maßnahmen in Tschechien wirken kaum - das Land hat sich in der deutschen Wahrnehmung zur Bedrohung entwivkelt.
Die Corona-Maßnahmen in Tschechien wirken kaum - das Land hat sich in der deutschen Wahrnehmung zur Bedrohung entwivkelt. © CTK/dpa

Als in Prag lebender Deutscher gehöre ich derzeit gleich zu zwei Risikogruppen: zu der für Corona und zu der für einen Herzinfarkt. In der Straßenbahn bin ich umgeben von vielen Leuten, die ständig husten. Obwohl alle Masken tragen, ist mir das nicht geheuer. Beim Einkauf rege ich mich regelmäßig heftig über Leute auf, die mir vorschriftswidrig eng auf die Pelle rücken. Die Folge ist Herzrasen.

Was ist los mit „meinen“ Tschechen? Die kennen die täglichen Horrorzahlen: ein Zehntel der Bevölkerung ist vom Virus oder dessen britischer Mutation schon erwischt worden, mehr als 18.000 Tote sind die Folge. Kranke werden sediert in ganzen Konvois durchs Land gekarrt, auf der Suche nach freien Klinikbetten. Die 7-Tage-Inzidenz liegt bei 500, in drei Kreisen, die abgeriegelt werden mussten, gar bei über 1.000. Der Gesundheitsminister hält für die kommenden Wochen solche Inzidenzen für landesweit denkbar.

Die besten Werte in der ersten Welle

Zeitungen in Deutschland sprechen jetzt gern giftig von den „Problem-Tschechen“. Pendler müssen sich von deutschen Grenzern anhören, dass sie „die schöne deutsche Statistik versauen“, bei Facebook wird ständig gefordert, „endlich dichtzumachen vor den Tschechen“.

Das alles geht mir persönlich an die Nieren. Ich liebe Tschechien, das mir in 30 Jahren als Prager Korrespondent zur zweiten Heimat geworden ist. Mich schmerzen Bilder von Endlosschlangen von Brummis oder Pendlern in eisiger Kälte wegen der peniblen neuen Grenzkontrollen. Doch ich verstehe die Gründe. Mit „Party machen“, wie Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer Richtung Prag populistisch mutmaßte, haben die nichts zu tun. Die letzten Prager „Partygänger“ kamen im Sommer vor allem aus Sachsen.

Die liberal-sozialdemokratische Minderheitsregierung um Premier Andrej Babiš müht sich nicht weniger als die anderer Länder, das Ruder herumzureißen. Sie hatte in der ersten Welle die besten Werte in Europa, weil sie schnell reagiert hatte. Schon Mitte März, früher als anderswo, wurde die Maskenpflicht eingeführt. Und die Tschechen zogen klaglos mit, fertigten in Heimarbeit an schon verstaubten Nähmaschinen massenhaft „Schleier“, wie die Masken hier genannt werden. Pendler wurden damals von ihren deutschen Kollegen ausgelacht. Tage später trugen die selbst Masken.

Deutsche Bürokratie

Die Disziplin der Tschechen zu Beginn der Pandemie überraschte mich total. Die liegt doch eigentlich uns Deutschen im Blut, dachte ich. Doch der Erfolg der Maßnahmen stieg der Regierung zu Kopf. Sie jubelte zu früh. Und die Tschechen mit ihr. Unvergessen ist es, wie Tausende Menschen auf der Karlsbrücke mit Sekt, Bier und Häppchen das „Ende von Corona“ feierten.

Die Deutschen sahen die Bilder aus Prag mit Erstaunen, hielten sich ihrerseits längst diszipliniert an die Regeln im eigenen Land. Auf meiner Durchreise in den Urlaub wurde die Bockwurst an deutschen Raststätten kalt, weil ich erst einen Fragebogen auszufüllen hatte nach meinem Woher und Wohin. Derlei kannte ich aus Tschechien nicht.

Nicht anders als in Deutschland

Als Anfang September die Inzidenz in Tschechien langsam wieder stieg, nahm die Regierung das nicht ernst genug. Erst mit 14 Tagen Verspätung gab es wieder Maskenpflicht. Zu spät. Und von den Verantwortlichen nicht kraftvoll genug kommuniziert.

Die Tschechen glaubten ihrer Regierung plötzlich nicht mehr. Heute hält bis zu einem Drittel nicht mal mehr die Grundregeln ein – Hände waschen, Masken benutzen und Abstand halten. Und das mitten im Lockdown, der seit dem 5. Oktober herrscht. Alles, was zugesperrt werden kann, ist dicht.

Nicht anders als in Deutschland – doch weitaus weniger erfolgreich. Jetzt sollen demnächst trotz der beunruhigend hohen Zahlen Schulen wieder öffnen dürfen. Die Regierung entscheidet nicht mehr allein. Sie ist von der Unterstützung der Bezirkschefs abhängig, die Erfolge sehen wollen. Ein Vabanquespiel.

Untauglich gegen Corona

Ob sich die Tschechen noch einmal zu einer Kraftanstrengung aufraffen? In vielen von ihnen scheint schlichtweg der alte Schwejk wieder durchgebrochen zu sein: Der brave Soldat in der Habsburger Armee, der die Befehle der Vorgesetzten einfach verlacht, ignoriert und sein Ding macht.

Diese sehr spezielle Überlebensstrategie hat den Tschechen über Jahrhunderte im Kampf um ihre nationale Souveränität geholfen. Sie steckt bis heute vielen in den Genen. Im Kampf gegen Corona ist sie leider völlig untauglich. Die neuzeitlichen Schwejks müssen das begreifen. Sie müssen wieder mitziehen, wenn die Infektionszahlen sinken und die für alle unschönen Kontrollen an der Grenze aufhören sollen.