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Das Buchmessen-Aus reißt ostdeutsche Wunden auf

Der lange Schatten einer Absage: Wenn nun schon zum dritten Mal die Leipziger Bücherschau abgesagt wird, stellen sich grundsätzliche Fragen.

Von Karin Großmann
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"Heilige" Hallen, leere Gänge: Nach 2020 und 2021 kann auch die Leipziger Buchmesse 2022 wegen der Corona-Pandemie nicht stattfinden. Oder legt es an mangelndem Willen?
"Heilige" Hallen, leere Gänge: Nach 2020 und 2021 kann auch die Leipziger Buchmesse 2022 wegen der Corona-Pandemie nicht stattfinden. Oder legt es an mangelndem Willen? © dpa/Sebastian Willnow

Seit die Leipziger Buchmesse für diesen März abgesagt wurde, brodelt es. Jeder gibt jedem die Schuld. Die Messeleitung habe keinen Plan B gehabt, so der Vorwurf, habe nicht rechtzeitig umgeschaltet auf digitale Formate oder einen späteren Termin. Ihr Einfluss auf die Kassenwarte in den Konzernverlagen sei zu gering. Diese Verlage hätten sich für Leipzig nicht annähernd so engagiert wie für Frankfurt am Main. Sie würden Corona als Testballon nutzen, um sich bald ganz zurückzuziehen.

Empörte Schriftsteller verabschieden Petitionen, auch der Kulturrat, die Kurt Wolff Stiftung der unabhängigen Verlage und der Verbund der Literaturhäuser protestieren gegen die Absage. Doch zum jetzigen Zeitpunkt, so Messechef Oliver Zille, sei eine Verschiebung des Betriebs mit zweieinhalbtausend Ausstellern in den Sommer nicht mehr möglich. Ein Lesefest nicht machbar ohne Messe im Hintergrund. Eine rein digitale Messe nicht realistisch.

Das Uneins-Sein der Nachwendezeit wirkt fort

Im Streit brechen alte Wunden auf, die mancher wohl längst geheilt glaubte. Das gilt vor allem für den Konflikt zwischen Ost und West. Das Uneinssein der Nachwendezeit wirkt fort. Mancher fühlt sich wieder daran erinnert, wie hiesige Schriftsteller als Staatskünstler abgetan wurden, wie Verlage fast über Nacht verschwanden und auch die Existenz der Leipziger Buchmesse eine Zeit lang infrage stand. Das Kürzel "kw" für "kann weg" wurde im Kulturbetrieb ein paarmal zu oft gesetzt von jenen, die nach ´89 in diesem Betrieb bestimmten. Das Misstrauen erklärt die Heftigkeit der aktuellen Proteste mit.

Es bleibt, auch wenn nun etwa Thomas Rathnow, Chef der Penguin Random House Verlagsgruppe, beteuert, die Absage seines Hauses sei allein der pandemischen Lage geschuldet. Man werde an einem der zentralen Ereignisse "des Bücherjahres 2023 auch in Zukunft festhalten".Die Lage bleibt auch deshalb verzwickt, weil sich Zahlen und Befindlichkeiten, Wünsche und Argumente vermischen. Probleme werden verhandelt, die ohnehin schon lange schwelen.

Der ökonomische Aspekt

Eine Buchmesse ist für die Gewerbe der Region ein Gewinn, aber für alle Beteiligten teuer. Die kleinste Koje mit vier Quadratmetern kostet in den Leipziger Messehallen 183 Euro pro Quadratmeter – da ist noch kein Stuhl, kein Stehtisch und kein Internetanschluss bezahlt, kein Mitarbeiter, keine Zugfahrt und kein Hotelbett. Ganz zu schweigen vom Kaffee oder von 99 Euro Teilnahmegebühr bei "Leipzig liest". Da kommen für vier Tage schnell einige tausend Euro zusammen – bei einem Großverlag mehr als hunderttausend.

Das muss man sich leisten können und wollen. Durch den Buchverkauf vor Ort kommen die Kosten nicht wieder rein. Das große Geschäft um Lizenzen, um Übersetzungen, Illustrationen, Film- und Taschenbuchrechte läuft ohnehin in Frankfurt am Main oder London ab. Und kein Strumpfhersteller muss eine Messe im Osten abhalten, wenn er Strümpfe im Osten verkaufen will. Natürlich lässt sich das nicht vergleichen. Mit Büchern machen Händler einen größeren Gewinn als mit Füßlingen. Und überhaupt.

Der kulturelle Aspekt

Eine Buchmesse ist der wichtigste Branchentreff. Man kann es auch Nestwärme nennen. Weil in Leipzig nicht das Geschäft im Mittelpunkt steht, bleibt mehr Zeit zum Reden für Verleger, Autoren, Übersetzer und Buchhändler, für Leser und Lese-Veranstalter. Viele beteuern, sich weniger gehetzt zu fühlen als in Frankfurt am Main. Das fehlt nun alles: der Austausch über Ideen, Meinungen und über Texte, an denen mancher jahrelang gearbeitet hat. Der stürmische Beifall nach einer Lesung, der vielleicht mehr ermutigt als eine Handvoll Likes auf dem Smartphone. Das Bad in der Menge Gleichgesinnter.

Verständlich, dass gerade Schriftsteller gegen das Aus der Leipziger Buchmesse protestieren und sich in einer Art Graswurzelbewegung verbünden: "Wir wollen lesen!" Die zufällige Begegnung zwischen zwei Ständen lässt sich durch kein digitales Treffen mit Zimmerpalme im Hintergrund ersetzen. Da sächsische Ministerien fördernd eingreifen, konnten auch kleine Verlage aus der Region ihre Programme vorstellen. Es war immer die erklärte Absicht der Messeleitung, gerade jungen Autoren und kühnen Projekten ein Podium zu geben. Zur Wahrheit gehört freilich auch, dass etablierte Schriftsteller im Frühjahr eher in Köln bei der lit.cologne auftreten als in Leipzig. Darüber kann die schiere Masse von Veranstaltungen bei "Leipzig liest" nicht hinwegtäuschen.

Der politische Aspekt

Eine Buchmesse ist ein Debattenort. Gerade Leipzig hat in den Vor-Virus-Jahren viel Kraft in die unterschiedlichsten Diskussionsrunden gesteckt – und damit Menschen erreicht, die sich sonst vielleicht nicht mit Konflikten in Ex-Jugoslawien oder in anderen Regionen der Welt befasst hätten. Wie dringend notwendig wären sachliche, ruhige Gespräche über Demokratie, Klimawandel oder die Lage rund um die Ukraine. Es ist bitter, dass der Blick Richtung Osten, der doch ein Herzensanliegen der Leipziger Buchmesse ist, dass dieser Blick gerade jetzt verbaut wird.

Staatsministerin Claudia Roth und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer erklärten am Montag gemeinsam, dass die Messe auch künftig eine "Brückenfunktion zu den Ländern Mittel- und Osteuropas" wahrnehmen müsse. Von Leipzig würden wichtige Impulse für internationale Verbindungen ausgehen. Leicht könnte man die Inspiration für andere Gebiete hinzufügen: Bildung, Wissenschaft, Geschichte, Sprache. Wer weiß, was nun all die Leipziger Schulklassen treiben, die sonst einen Tag messefrei hatten.

Der historische Aspekt

Eine Buchmesse ist ein Ereignis mit Tradition. Im Leipziger Messekatalog wurden schon 1594 die ersten Neuerscheinungen angepriesen. Doch so weit muss man gar nicht zurückgehen, um das identitätsstiftende Moment der Leipziger Buchmesse zu verstehen. Sie öffnete für ostdeutsche Leser in der DDR-Zeit ein Fenster zu Welt. Mancher verbrachte Stunden im Messehaus am Markt, um am Stand von Suhrkamp oder Rowohlt ganze Passagen aus einem Buch abzupinseln. Andere kamen täglich und lasen sich durch Gedichtbände oder Romane von Autoren, die man hier nur dem Namen nach kannte.

Westdeutsche Verlage waren angeblich darauf eingerichtet, dass sie mit sehr viel weniger Büchern heimfuhren, als sie gekommen waren. Wohlwollend wurde ein Auge zugedrückt, wenn sich ein Hiesiger Westkultur aneignen wollte. Profis trugen Mäntel mit extrabreiten Einstecktaschen im Innenfutter. Und wie dann nach dem Herbst ´89 plötzlich die Welt leibhaftig einritt mit Günter Grass auf dem Butt! Es war ein stiller Triumph, als angesichts so vieler Abwicklungen, Enttäuschungen und falscher Versprechen im Osten die Bücher in die neu gebauten Hallen ziehen konnten.

Solche Erinnerungen spielen mit, wenn nun die Empörung über das dritte Messe-Aus hohe Wellen schlägt. Es wirkt wie eine erneute Kränkung – und wie ein zusätzlicher Dämpfer in der ohnehin gedämpften Corona-Stimmung.