Das Schweigen am Tharandter Wald

Es war die Angst, die Rita Müller* am Ende aus der Klinik trieb. Die 78 Jahre alte Dresdnerin war an der Hüfte operiert worden, im November wollte sie drei Wochen im Rehabilitationszentrum in Hetzdorf bei Freiberg bleiben. Dann kam ein schlimmer Verdacht auf – er sollte zur Gewissheit werden.
Die Reha-Einrichtung, die mit dem Slogan „Klinik mit Herz“ wirbt, liegt am Rand des Tharandter Waldes im Landkreis Mittelsachsen. Vom Kreisel vor dem Haupteingang zieht sich eine Parkanlage über Treppen oder Serpentinen für Rollstuhlfahrer hinab zu einem Teich. Dahinter sucht der Hetzbach seinen Weg in die Triebisch. Von den gut 240 Zimmern, die im Westen und im Süden des 1997 eröffneten Gebäudes liegen, schauen die Patienten direkt auf die Baumwipfel. Ein Ort, für den das Unternehmen in seiner Internetpräsentation wirbt: „Neue Kräfte sammeln im milden Mikroklima des Tharandter Walds.“
Das will auch Rita Müller. Doch ihr Vorhaben wird jäh unterbrochen, da ist die Seniorin schon fast eine Woche in der Klinik.

Es ist das Wochenende, an dem in Leipzig bis zu 40.000 Menschen gegen die Corona-Auflagen demonstrieren. Rita Müller erzählt, sie habe mit fünf anderen Patienten am Abendbrottisch gesessen. Gerüchte hätten die Runde gemacht. „Da wurde geflüstert, zwei Leute seien abgeholt worden von Rettungskräften in Vollschutzanzügen.“ An und für sich nichts Ungewöhnliches in diesem Pandemie-Jahr.
Rita Müller zufolge aber schweigt die Klinikleitung. Sie und andere Patienten sowie deren Angehörige hätten nicht erfahren, ob und wie viele Infektionsfälle es zu diesem Zeitpunkt gegeben habe. Nur hinter vorgehaltener Hand habe eine Mitarbeiterin erzählt, dass Corona ausgebrochen sei. „Dabei sind die Menschen dort fast alle alt und gehören schon deshalb zur Risikogruppe“, sagt Rita Müller. „Manche sind behindert, manche gehen am Stock, manche hatten einen Schlaganfall.“
"Multimorbide Krankheitsbilder"
Das Unternehmen selbst bezeichnet seine Klientel in Hetzdorf im Geschäftsbericht 2018 als „überwiegend älter“. Die Patienten im angeschlossenen neurologischen Fachkrankenhaus wiesen „multimorbide Krankheitsbilder“ auf. Dort sei man spezialisiert auf Fälle, „die nach einer intensivmedizinischen Behandlung von künstlichen Beatmungshilfen entwöhnt werden“.
Betreiber ist die Rehabilitationszentrum Niederschöna GmbH. Die Gesellschaft teilt auf Nachfrage lediglich mit, man habe die Covid-19-Fälle bisher in „sehr geringen Rahmen“ halten können. Vor positiven Testungen und Erkrankungen sei man eben „nicht gefeit“. Die Pandemie habe „auch in unserer Einrichtung ihre einschneidenden Spuren hinterlassen“.
Was das für die Patienten bedeutet, wie viele Fälle es bisher gegeben hat, welche Konsequenzen daraus gezogen wurden – all das bleibt unbeantwortet. Stattdessen wird betont, die Klinik setze alle Regelungen und Verordnungen um. Diese würden mit den Gesundheitsbehörden „ständig überprüft und angepasst“.
"Als würden die das geheim halten wollen"
Auskunft geben könnte das Landratsamt Freiberg. Dort heißt es: „Wir äußern uns generell nicht zu einzelnen Pflegeeinrichtungen und medizinischen Einrichtungen.“ Nicht einmal betroffene Orte will der Landkreis nennen. Bei Kitas und Schulen gilt diese selbst auferlegte Beschränkung nicht.
Am Tag nach dem Flüster-Abendessen dürfen Rita Müller und ein weiterer Patient nicht mehr mit den anderen am Tisch sitzen. Ob es einen aktuellen Anlass dafür gäbe, habe sie die Frauen gefragt, die das Essen servierten. Die Angestellten hätten nur mit den Schultern gezuckt. „Die haben gesagt, wir sitzen zu eng beieinander, aber in den Tagen vorher war das ja auch kein Problem“, sagt Rita Müller. „Die durften bestimmt nichts sagen.“
Diesen Eindruck hat auch eine 85 Jahre alte Reha-Patientin aus Dresden. Sie war nach einem Schlaganfall knapp drei Wochen in der Klinik und erst vor wenigen Tagen entlassen worden. „Als würden die das geheim halten wollen,“ sagt sie. Die Stimmung dort sei „angespannt“.
Das Reha-Zentrum ist in Privathand, die Betreiber-GmbH ist wie ein Konzern organisiert. Außer dem Haus in Hetzdorf gehört noch eine Kurklinik im thüringischen Bad Liebenstein dazu. An einem Freitaler Seniorenheim ist man beteiligt. Hinzu kommen Töchterfirmen für Essensverpflegung und Reinigung sowie eine Investitionsverwaltung, in der die Immobilien gebündelt sind.
2018 mache dieser Konzern einen Umsatz von 34 Millionen Euro – und war trotz des „milden Mikroklimas“ mit der Kommune am Tharandter Wald unzufrieden: „Während Bad Liebenstein über eine sehr gute Infrastruktur mit hohem Erholungs- und Freizeitwert verfügt, ist dies leider in Hetzdorf nicht der Fall.‘“ Unter anderem fehlten Partner in der Gastronomie. Schlug deshalb die hinter dem Gesundheitskonzern stehende Familie gleich selbst zu?
Mehr Abstand am Essenstisch
Im Jahr 2018 erwarb Dietmar Nichterlein ein insolventes Hotel in unmittelbarer Nähe der Hetzdorfer Klinik. Der 69-Jährige ist in der Region kein Unbekannter. Von 1994 bis 2010 war er kaufmännischer Geschäftsführer des Klinikums Chemnitz. Die Staatsanwaltschaft Würzburg ermittelte gegen ihn wegen des Verdachts der Bestechlichkeit, stellte das Verfahren aber 2011 Beweisen ein. Nichterlein hatte während seiner Chemnitzer Zeit begonnen, ein familiäres Firmenkonglomerat aufzubauen. Dazu gehören nicht nur Reha-Kliniken, sondern inzwischen auch drei Hotels, unter anderem das Kulturhotel Fürst-Pückler-Park in Bad Muskau.
Mehr Abstand am Essenstisch – das ist nicht die einzige Veränderung, die Rita Müller bemerkt. Von heute auf morgen habe Sicherheitspersonal vor den Türen gestanden. Die Reha-Gäste hätten fortan Bändchen tragen müssen wie in All-Inklusive-Urlaubsclubs. „Keiner durfte mehr rein, der nicht zur Reha da ist.“ Man habe zwar noch draußen spazieren gehen können, „aber die Eingangstüren wurden auf einmal schon abends um fünf verrammelt.“

An den besuchsreichen Samstagen sei plötzlich die Cafeteria zu gewesen. Auch im Foyer habe man keinen Kaffee mehr kaufen können. Die Behandlungspläne seien zusammengestrichen worden. „Ich hatte vorher pro Tag zwei bis drei Behandlungen wie Wassergymnastik, Krankengymnastik in der Hüftgruppe und auf dem Ergometer“, sagt Rita Müller. „Als das alles losging, gab es nur noch eine Behandlung am Tag.“ Die Wassergymnastik, an der zuvor zwei bis vier Patienten teilgenommen hätten, sei komplett gestrichen worden.
Hausinterne Veranstaltungen seien ausgefallen, kundgetan auf Aushängen ohne Angabe von Gründen. „Vorher war alles offen, und auf einmal war es totenstill, und die Leute haben sich auf ihren Zimmern verkrochen“, sagt Rita Müller. „Die hätten doch sagen können, dass das wegen Corona so ist.“ So hätte auch niemand erfahren, ob Betroffene schon vor der Behandlung infiziert waren, gesund nach Hetzdorf gekommen sind, oder sich erst dort angesteckt haben. Die Klinik äußert sich auch dazu nicht.
Testung erst nach heftigen Diskussionen
Dabei dürften jene Patienten, die unter den Augen anderer Reha-Gäste weggebracht worden sind, nicht die einzigen Corona-Fälle vor Ort sein. Auf dem Internet-Portal klinikbewertungen.de behauptet ein Schlaganfall-Patient, er habe sich in Hetzdorf angesteckt. Vermutlich durch eine andere Patientin. „Ich bat darum, getestet zu werden. Zuerst wurde mir der Test mit abenteuerlichen Argumenten verweigert.“ Nach heftigen Diskussionen mit Ärzten sei schließlich mit einem Tag Verzögerung ein Schnelltest gemacht worden. „Das Ergebnis: positiv.“ Einen Tag lang habe er andere anstecken können. Nach dem positiven Test sei er gebeten worden, sofort abzureisen. Unter den Mitarbeitern herrsche ein Klima der Angst.
Derlei Bewertungen, die normalerweise eine Entscheidungshilfe für Reha-Gäste sein sollen, lassen sich auf ihren Wahrheitsgehalt kaum überprüfen. Aber Zeitraum und Beschreibungen passen zu dem, was Rita Müller erlebt hat. Ihr sei ein Test verweigert worden, erinnert sie sich. Dazu bestünde kein Anlass, hätten die Ärzte gesagt. Warum Patienten wie Rita Müller nicht getestet wurden – auch dazu schweigt die Klinik. Auf deren Internetseite finden sich nur allgemeine Hinweise zu Symptomen und zum Besuchsverbot.
Aus Fachkreisen heißt es, das Krisenmanagement in Hetzdorf sei nicht optimal. Es sei keine Schande, wenn Corona-Fälle aufträten. „Ausgefeilte und operative Hygienekonzepte sind ein Qualitätsmerkmal.“

Die Deutsche Gesellschaft für Medizinische Rehabilitation ist ein Fachverband, dem rund 120 Kliniken angehören. Geschäftsführer Christof Lawall will den Hetzdorfer Fall nicht kommentieren. Er sagt, die meisten Reha-Einrichtungen hätten den Sommer genutzt, um sich der Pandemiesituation anzupassen. Dazu gehörten neben häufigen Corona-Tests bei Patienten und Mitarbeitern, Schutzkleidung, Abstandsregeln und Hygienemaßnahmen auch eine transparente Kommunikation und Aufklärung in Form von Vorabinformationen auf den Internetseiten der Kliniken. „Aushänge und Erklärungen sind das Gebot der Stunde. Ohne das Vertrauen in ein sicheres Umfeld, ist eine erfolgreiche Rehabilitation schwer vorstellbar.“ Überdies finanzierten die Kassen den Mehraufwand seit dem Spätsommer mit acht Euro pro Tag und Patient.
Auch Thomas Bublitz, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands Deutscher Privatkliniken, empfiehlt, „offen und transparent nach innen und nach außen“ zu kommunizieren. Schließlich seien Patienten und Mitarbeiter verunsichert.
Corona-Schnelltests im Kirnitzschtal
Andere Reha-Häuser wie die Falkenstein- und die Kirnitzschtalklinik in der Sächsischen Schweiz bieten ihren Patienten Corona-Schnelltests schon bei der Anreise. „Pro Woche ‚fischen‘ wir circa einen anreisenden Gast mit einem positiven Test heraus“, teilt die Geschäftsführung mit. Zudem würden alle Patienten und Mitarbeiter einmal pro Woche getestet. In den vergangenen sechs Wochen sei kein Test positiv gewesen. Sobald ein Mitarbeiter oder Patient Erkältungssymptome zeige, werde nach Bedarf zusätzlich getestet.
Die Median-Klinik in Berggießhübel testet Neuankömmlinge nach eigenen Angaben mit dem PCR-Verfahren und bringt sie isoliert unter, bis ein Ergebnis vorliegt. Ergänzt werde das durch Antigen-Schnelltests. Träten bei Patienten Symptome auf, kämen beide Testverfahren zum Einsatz, auch für Kontaktpersonen ersten Grades. Seit Beginn der Pandemie habe es etwa 30 Corona-Fälle gegeben. Die Patienten seien bei Aufnahme alle negativ getestet worden. Aushänge und Rundschreiben informierten über die Infektionslage.
Die Reha-Branche hat wirtschaftlich ebenso zu kämpfen wie etwa das Gastgewerbe. Während der ersten Corona-Welle brach nach Angaben der AOK-Plus jeder fünfte Patient seine Reha ab. Eine unbekannte Zahl war gar nicht erst angereist. Wohl auch deshalb empfahl die Deutsche Rentenversicherung (DRV) schon im Mai, generell wieder Rehabilitanden aufzunehmen. In jenem Monat hatten nach einer Umfrage der Sächsischen Zeitung mindestens 44 der 48 Rehakliniken in Sachsen geöffnet. Ende Oktober hieß es dann seitens der DRV, die medizinische Rehabilitation habe wieder Fahrt aufgenommen. Viele Einrichtungen signalisierten „erfreulicherweise eine ausreichende Belegung“.
Drei Millionen Euro Gewinn im Jahr 2018
Steht der Aufschwung wieder auf dem Spiel? Auffallend ist, dass die Branche im Freistaat in der zweiten Welle weitgehend schweigt. Öffentlich geworden sind lediglich die Positivtestungen eines Arztes und zweier Patienten in einer Klinik im vogtländischen Bad Elster sowie einer Mitarbeiterin in Thermalbad Wiesenbad. Auch das sächsische Gesundheitsministerium ist nicht in der Lage, einen konkreten Überblick über Corona-Infektionen in Rehabilitations-Einrichtungen zu geben.
Der Konzern um die Familie Nichterlein beschäftigt allein in Hetzdorf und in Bad Liebenstein rund 600 Mitarbeiter, davon sind 80 Prozent Frauen. 2018 betrug der Konzernjahresüberschuss noch gut drei Millionen Euro. 1,14 Millionen Euro davon flossen als Gewinn an die Gesellschafter.
Sind wirtschaftliche Aspekte die Ursache für das Schweigen gegenüber Patienten und Angehörigen? Auch dazu will die Klinik sich nicht äußern. Ebenso wenig dazu, ob ausgefallene Reha-Behandlungen den Kassen und Krankenversicherungen dennoch in Rechnung gestellt werden
*Name geändert.
Update: In einer ersten Version hatten wir geschrieben, dass der Hetzbach in die Flöha mündet. Das ist zwar nicht falsch, denn es gibt einen Hetzbach, der das macht. Aber der Hetzbach an der Klinik mündet in die Triebisch. Wir danken einem aufmerksamen Leser für den Hinweis.