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"Wir haben noch immer nicht gelernt, mit der Pandemie umzugehen"

In Schleswig-Holstein schlägt Corona voll zu - in Görlitz kaum. Was jetzt zu erwarten ist, schätzt Infektionsepidemiologin Claudia Friedrichs ein.

Von Susanne Sodan
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Dr. Claudia Friedrichs ist Fachärztin für Infektionsepidemiologie und leitet den Görlitzer Standort des Medizinischen Labors Ostsachsen.
Dr. Claudia Friedrichs ist Fachärztin für Infektionsepidemiologie und leitet den Görlitzer Standort des Medizinischen Labors Ostsachsen. © Paul Glaser/glaserfotografie.de

Deutschland ist zweigespalten. Zumindest bei den Corona-Werten derzeit. Während in Schleswig-Holstein Corona für massive Engpässe in Kliniken sorgt, wirkt die Lage in Sachsen fast entspannt. Auch im Kreis Görlitz, wo die Inzidenz am Dienstag sogar etwas sank. Doch eine solche Zweiteilung des Landes auf der Corona-Karte sieht die Görlitzer Infektionsepidemiologin Dr. Claudia Friedrichs vom Medizinischen Labor Ostsachsen nicht zum ersten Mal. Sie vermisst etwas, das viele gefordert haben: Eigenverantwortung. Welche Beobachtungen das Labor macht, und was sie in den kommenden Wochen für den Kreis Görlitz erwartet.

Frau Dr. Friedrichs, bundesweit steigen die Coronawerte wieder stark. Auch im Landkreis Görlitz ist die Sieben-Tage-Inzidenz in einer Woche um rund 30 Prozent gestiegen. Gleichzeitig gehört der Kreis zu den am wenigsten betroffenen. Wie ist das einzuordnen?

Schaut man sich die Inzidenzen ​bundesweit an, sieht man zurzeit ein West-Ost-Gefälle. Die Zahlen sind in der westlichen Hälfte deutlich höher. In anderen Wellen war es genau umgedreht, es ging von Ost nach West. Im Moment ist Schleswig-Holstein das Land mit der höchsten Inzidenz von über tausend, Thüringen das Land mit der niedrigsten, knapp 300. Sachsen liegt im unteren Mittelfeld. Auch innerhalb der Länder sind Unterschiede zu sehen. In den Großstädten Leipzig und Dresden liegen die Inzidenzen deutlich über 600 und 400, bei uns im Kreis Görlitz aktuell schwankt der Wert bei über 200.

Was ist jetzt zu erwarten?

Wie in anderen Wellen auch, werden bei uns die Zahlen noch steigen. Wo es sich einpegelt, weiß noch keiner.

Wie schlimm ist das? Die Krankenhausbelastung ist zwar etwas gestiegen, liegt aber verglichsweise niedrig.

Die Hospitalisierungsrate ist sachsenweit derzeit niedrig. In Schleswig-Holstein dagegen, wo die Inzidenz viel höher ist, liegt die Hospitalisierungsrate auch deutlich höher, über dem Bundesdurchschnitt. Je mehr Infektionen, je höher die Inzidenz, umso mehr Menschen erkranken auch an Corona. Und dann sind auch immer Risikopatienten dabei, die leider auch ins Krankenhaus müssen.

Dabei hat Schleswig-Holstein eine gute Impfquote. Ist die Corona-Schutzimpfung wirklich so wenig wirksam?

Bei Omikron und seinen Untervarianten, leider ja. Ich glaube, sowohl Mediziner als auch Bürger sind ziemlich enttäuscht von der aktuellen Schutzwirkung gegenüber Omikron. Ich hätte mir sehr viel früher einen an die Omikron-Variante angepassten Impfstoff gewünscht. Zu Anfang des Jahres hatte es sich auch so angehört, dass es relativ unkompliziert möglich ist, die Impfstoffe anzupassen. Und jetzt herrscht eher die Sorge, dass wir im Herbst zwar einen Omikron-angepassten Impfstoff haben, aber kein Omikron mehr.

Laut RKI-Wochenbericht ist inzwischen die Omikron-Untervariante BA.5 die vorherrschende. Ist das bei uns auch so, oder dominieren noch andere Varianten, die vielleicht die geringere Inzidenz erklären könnten?

Nein, der Trend ist bei uns genauso. Der BA.5-Anteil ist in den letzten Wochen stetig gestiegen, genaue Auswertungen folgen noch. Der Anteil der zuvor dominanten Variante BA.2 wird weiter abnehmen, man kann davon ausgehen, dass in den nächsten drei bis vier Wochen BA.5 die vorherrschende Variante sein wird, auch bei uns im Landkreis.

Die Krankenhausbelegung ist vergleichsweise niedrig, man hat aber durch den Bekanntenkreis den Eindruck, dass diesmal viele Infizierte doch ziemlich flach liegen. Wie gefährlich ist BA.5?

Das ist schwer zu sagen, weil die Auswertungen dazu noch fehlen. Dafür müssen wir die Hospitalisierungsraten in den nächsten Wochen genau beobachten, um dann Rückschlüsse ziehen zu können. Mein persönlicher Eindruck ist, dass zurzeit doch wieder zunehmend Patienten mit schweren respiratorischen Symptomen, hohem Fieber über Tage zu kämpfen haben. Nur ein Schnupfen ist es im Moment für viele tatsächlich nicht. Genauso gibt es nach wie vor symptomlose Infektionen. Diese Spannbreite ist es ja, die unsere Gesellschaft so polarisiert.

Laut RKI lassen sich kaum bestimmte Altersgruppen benennen, die von der Sommerwelle betroffen sind, die Fallzahlen sind recht gleichmäßig verteilt. Wie ist das bei uns?

Vorige Woche haben wir für die Landkreise Görlitz und Bautzen 1.900 Testungen vorgenommen. Davon waren rund 60 Prozent positiv. 50 Prozent der Positiv-Fälle betrafen Menschen zwischen 40 bis 70 Jahren. Bei uns sind derzeit also vor allem die Menschen im mittleren Alter oder jüngere Senioren betroffen. Ich denke, die Mobilität, von Arbeit bis Reisen, spielt eine Rolle. Wenig betroffen sind bei uns aktuell die Jugendlichen im Alter von 10 bis 19 Jahren. Sie machen nur sieben Prozent der Positivrate aus, hatten wir schon anders.

Inwiefern sind die Inzidenzen überhaupt aussagekräftig? Kann man bei einer Positivrate von 60 Prozent nicht von hoher Dunkelziffer ausgehen?

Die Dunkelziffer infizierter Personen ist zurzeit sicher hoch einzuschätzen und wird in den nächsten Wochen wahrscheinlich auch noch ansteigen. Dabei spielen verschiedene Dinge eine Rolle, zum Beispiel die neue Corona-Testverordnung, aber auch der Sachverhalt, dass nicht alle Betroffenen einen positiven Antigen-Schnelltest durch eine PCR bestätigen lassen. Damit fallen Meldungen an das zuständige Gesundheitsamt weg.

Sie sprechen die Testverordnung an. Über die wurde heftig diskutiert. Bis auf Ausnahmen kosten Tests jetzt drei Euro. Was halten Sie davon?

Anlasslose Testungen asymptomatischer Personen sollten eingestellt werden. Das war ja auch Ziel der neuen Testverordnung. Über staatliche Mittel soll das Testen möglich sein, liegt ein Anlass vor. Prinzipiell halte ich das für richtig. Aber die festgelegten Anlässe sind so kleinteilig, kompliziert dargelegt, dass die Testverordnung im realen Alltag der Testzentren und Arztpraxen kaum umsetzbar ist. Nun haben die Kassenärztlichen Vereinigungen, über die die Abrechnung der Tests erfolgt, sich sehr deutlich gegen die neue Verordnung ausgesprochen. Das kann ich nachvollziehen, weil in dieser sehr bürokratischen Form der Testverordnung Anlässe kaum zu kontrollieren sind.

Was denken Sie, welche Auswirkungen sind zu erwarten?

Meine Befürchtung ist, dass vielleicht aufgrund der Komplexität der Testverordnung manche Testeinrichtungen, gerade im ländlichen Raum, schließen werden. Das würde heißen, dass wieder mehr Personen sich an die niedergelassenen Ärzte wenden. Aber die Praxen haben derzeit vollauf zu tun. Die sicher schon in vielen Bereichen vorhandene Überlastung würde noch weiter steigen und damit auch in anderen Bereichen zu Versorgungsengpässen führen.

Was ist jetzt wichtig?

Dass wir wieder anfangen zu überlegen, in welchen Bereichen wir unsere Kontakte einschränken. Ich mache das inzwischen wieder. Eigentlich verträgt sich das Coronavirus nicht mit Wärme und hoher UV-Strahlung. Aber BA.5 scheint auch im Sommer leider recht mobil zu sein. Im Freien habe ich keine Bedenken, aber wenn man derzeit ein Konzert in einem Innenraum besucht, sollte man vielleicht doch überlegen, ob man nicht lieber Maske trägt. Wir leben nun schon lange mit der Pandemie. Aber ich habe das Gefühl, wir haben noch immer nicht gelernt, damit umzugehen.

Inwiefern?

Es ist nicht richtig das Gespür drin, was man von sich aus tun kann, wenn sich Werte in diese oder jene Richtung entwickeln. Fast alle Maßnahmen sind aufgehoben. Das heißt aber nicht, dass ich alles machen muss, was erlaubt ist. Ich hätte auch sehr gerne einen sorglosen Sommer. Wir alle wollen gerne wieder verreisen. Aber dieses ganz Sorglose bei unseren Aktivitäten halte ich derzeit nicht für angebracht. Da fehlt mir im Verhalten vieler ein bisschen das Verantwortungsvolle. Unsere Gesellschaft hat es nicht geschafft, die Menschen mitzunehmen. Das ist in anderen Ländern anders, zum Beispiel Spanien. Da tragen die Menschen in Situationen, in denen sie das für richtig halten, einfach Maske, ohne dass schief geschaut wird. Das trifft zum Beispiel auch im Flugzeug auf dem Weg in den wohl verdienten Urlaub zu.