Berlin/Dresden. Begonnen hat es mit einem scharfen Facebook-Kommentar von Ex-Eiskunstläuferin Katarina Witt, die ihrem Ärger, Zorn und Frust über die Corona-Lage Anfang Februar einfach mal Luft machte.
„Wahrscheinlich läuft bei uns in Deutschland zahlreiches besser als anderswo und trotzdem müssen wir feststellen, dass wir gerade all das ausbaden, was die Politik in der Vergangenheit versäumt, verschlafen und eingespart hat“, schrieb die mehrfache Olympiasiegerin enttäuscht. Und sie beeilte sich sogleich, mehrfach zu beteuern, dass sie „weder Corona-Leugnerin noch Lockdown-Gegnerin“ sei. Sie vermisse den Teamgeist in der Politik, höre zu viele Durchhalte-Parolen von Politikern.
Die 55-jährige Ex-Spitzensportlerin, die inzwischen Unternehmerin ist und unter anderem ein derzeit geschlossenes Sportstudio in Potsdam betreibt, hatte mit der riesigen Resonanz auf ihren energischen Zwischenruf wohl selbst nicht gerechnet. Fast 50.000 zustimmende „Likes“ sammelte die einstige Spitzensporterlin auf Facebook ein, dazu rund 6.000 meist positive, dankbare Kommentare, dass sie sich vor allem für kleinere Unternehmen und Selbstständige stark gemacht habe.
Ein besonderer Leser aus Dresden ärgerte sich aber auch besonders über die prominente Stimme aus dem Osten im Chor der Politik-Kritiker: Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer versicherte noch am gleichen Tag in einer Pressekonferenz, als er kurz zuvor den Eintrag der Karl-Marx-Städterin gelesen hatte und ahnte, wie sehr die beliebte Sportlerin damit Aufmerksamkeit und Sympathie erregen würde, mit ihr darüber sprechen zu wollen.
Zugleich versicherte er, wie sehr er sie schätze. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ nahm ihn quasi beim Wort und erleichterte die Begegnung mit einer Einladung an beide zum Gespräch. Das Treffen kam vor einer Woche zustande. Kretschmer fuhr dazu am Freitagabend extra nach Berlin und traf sich dort quasi „auf sächsischem Boden“ zum verbalen Schlagabtausch mit Katarina Witt – in der Landesvertretung des Freistaats.
Ihr breche das Herz, wenn sie die Nöte von Händlern, Selbständigen und Künstlern in diesen Corona-Wochen sehe, bedauerte Witt. Viele seien doch seit dem Lockdown „zum Berufsverbot verurteilt“, kritisierte sie. Die von der Politik versprochenen Milliardenhilfen kämen nicht an. „Die angekündigte Bazooka blieb eine Wasserpistole", sagte Witt.
Mut zu Experimenten
Sie wolle die Gefahr nicht relativieren, aber ärgere sich über den „Flickenteppich an Entscheidungen“, was die Lockdown-Regeln angehe. „Es fällt mir schwer, darin vernünftige Politik zu erkennen“, sagte sie in dem Doppelinterview, das an diesem Donnerstag in der „Zeit“ erscheint.
Die Politik sei nicht schuld, erwiderte Kretschmer. Er sei doch auch „nicht nur Politiker, sondern Bürger“. Recht gebe er Witt darin, dass „die Hilfen zu lange dauern, vielleicht auch zu kompliziert sind“. Es ärgere ihn, wenn der Eindruck entstehe, Politiker würden gegen die Interessen der Menschen entscheiden. „Genauso gefährlich ist es, wenn Politiker nur noch das tun, was gut ankommt“, sagte Kretschmer.
Wie die Situation dann aus dem Ruder laufen könne, sei doch gerade im Nachbarland Tschechien zu beobachten. Dort wechselt man seit Wochen immer wieder ab zwischen Schließen und Lockern, Öffnen und Schließen – das Land verzeichnet mittlerweile erschreckende Spitzenwerte bei Neuinfektionen und Inzidenz-Werten.
Darum gehe es doch gar nicht, erwiderte Witt. „Aber wenn etwas nicht funktioniert, muss man dies analysieren dürfen und neue Wege ausprobieren“, plädierte sie für mehr Mut zu lokalen und regionalen Experimenten. So wie es beispielsweise in Rostock geschehe, wo man verstärkt testet und daran mögliche Öffnungen koppelt.
Schlagfertigkeit von Witt überrascht
Kretschmers Reaktion darauf – eher schwach, als hätte er sich angesichts der Schlagfertigkeit seiner Gesprächspartnerin diesmal ein bisschen überschätzt. Es seien doch „alle unverschuldet in dieser Situation“, die Politik nehme aber doch Milliarden in die Hand, um Unternehmen zu helfen.
Auf den Einwand von Katarina Witt, dass es dabei aber eben auch gerecht zugehen müsse, reagiert Kretschmer mit einer Gegenfrage: „Kann es sein, dass wir Ostdeutsche eine besondere Vorstellung von Gerechtigkeit haben.“ Witt pariert: „Ich rede von Fairness. In Logistiklagern können Hunderte Menschen herumwuseln, aber der einzelne Schuhverkäufer hat faktisch Berufsverbot.“ Im Osten heiße Gerechtigkeit oft Gleichheit, hält Kretschmer der Olympiasiegerin vor. „Gott sei Dank ist Volkswagen nicht geschlossen! Die sorgen dafür, dass Geld reinkommt, damit wir anderen Hilfsgelder zahlen können.“
Doch Witt geht es vor allem um die „Kleinen“. Sie bräuchten eine klare Perspektive, klare Vorgaben. Da sei der erste Lockdown nachvollziehbarer gewesen. „Vielleicht wäre es am besten, man würde das ganze Land mal für zwei Wochen schließen.
Zwei ungleiche Gesprächspartner
Das wäre konsequent“, findet Witt. Das sei doch „keine Frage von Gerechtigkeit, sondern von Abwägung“, erwidert Kretschmer und warnt vor einem riesigen wirtschaftlichen Schaden für ganz Deutschland. Die beiden reden sich fest. Und sind dann doch einer Meinung, dass die Auszahlung der November-Hilfen zu spät erfolgt sei. Lob von Witt für Kretschmer gibt es im Blick auf seine „Oster-Ansage“, dass Urlaubsreisen dann noch nicht möglich sein werden.
Doch die Witt packt auch gleich die nächste Kritik mit rein. Es müsse einen Ausgleich für die betroffenen Hoteliers und Gastromone geben und vor allem längerfristige Pläne. Keck fordert Witt, dass Politiker doch eine Weile auf ihre Gehälter verzichten sollten. „Eigene Not lässt Sie vielleicht flotter in die Puschen kommen“, sagt Witt und versichert noch, dass sei überhaupt nicht populistisch gemeint.
Was die Politik jetzt ändern müsste, fragen die Zeit-Redakteure Jana Hensel und Martin Machowecz abschließend beide. „Unser Wirtschaftssystem, unser Leben. Wir können nicht so hemmungslos Weitermachen“, sagt Witt. Und auch davon scheint Kretschmer am Ende gar nicht weit entfernt zu sein. „Das Virus hat uns gezeigt, wie verwundbar wir sind. Viele sind der Meinung, dass wir nachhaltiger und gesünder leben müssen. Stimmt wohl.“ Ende eines Gesprächs zweier sehr ungleicher Gesprächspartner.