Freital
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"In dieser Uniform steckt kein Superheld"

Jeder Mensch verdient Respekt, sagt Hauptkommissar Marcel Müller vom Revier Freital. Über das Polizist sein in aufgeregten Zeiten.

Von Jörg Stock
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"Die Uniform macht nicht unverwundbar." Polizeihauptkommissar Marcel Müller vom Freitaler Revier begegnet jedem mit Respekt. Das fordert er auch für sich und seine Kollegen ein.
"Die Uniform macht nicht unverwundbar." Polizeihauptkommissar Marcel Müller vom Freitaler Revier begegnet jedem mit Respekt. Das fordert er auch für sich und seine Kollegen ein. © Norbert Millauer

Die Eltern haben angerufen. Sie sind mit ihrem Sohn verabredet. Aber der macht nicht auf. Sie sorgen sich. Die Polizei kommt, die Tür wird geöffnet. Ein Polizist geht als Erster hinein. Er findet den Sohn im Badezimmer, die Pulsadern offen, in der Dusche liegen. Er ist tot. Und die Eltern warten vor der Wohnung ...

Es sind Tage wie diese, auf die kann einen keine Polizeischule vorbereiten, sagt Marcel Müller. Zwar steht es auf dem Lehrplan, wie man jemandem den Tod seines Nächsten mitteilt. "Aber es ist etwas anderes, wenn man es wirklich erlebt." Er hat es damals erlebt, in jener Wohnung, und noch einige Male mehr in seiner Laufbahn, die er zum Gutteil im Streifenwagen verbracht hat. Die Straße ist für ihn die eigentliche Polizeischule. "Die Straße ist das Maß aller Dinge."

Marcel Müller, 38 Jahre alt, aus Dippoldiswalde ist einer von rund 15.000 Menschen, die bei der sächsischen Polizei arbeiten. Er ist Hauptkommissar im Polizeirevier Freital-Dippoldiswalde. Dort leitet er eine Schicht, ein Dutzend Beamte, die, wenn sie im Einsatz sind, für die Sicherheit von 118.000 Menschen sorgen. "Eine respekteinflößende Aufgabe", sagt er, "was da alles abgedeckt werden muss."

Respekt ist das Stichwort. Marcel Müller ist keiner von denen, die gern am Handy hängen und laufend Statusmeldungen verschicken. Aber diesen kleinen Film, Hashtag "Respekt für Polizei", hat er einfach posten müssen. Jede Begebenheit in diesem Video hat er hautnah mitgemacht: Einsatz im Steinehagel, mit der Todesnachricht an einer Haustür klingeln, eine Schusswaffe auf jemanden richten, vergeblich versuchen, einen Selbstmörder vom Sprung in den Tod abzuhalten. Müller bekam Gänsehaut beim Anschauen. "Der Film spricht jedem Polizisten aus der Seele."

Will nicht, dass die Polizisten als Prellböcke herhalten müssen: Jan Krumlovsky von der Gewerkschaft der Polizei in Kesselsdorf.
Will nicht, dass die Polizisten als Prellböcke herhalten müssen: Jan Krumlovsky von der Gewerkschaft der Polizei in Kesselsdorf. © Norbert Millauer

Das Video hat der Landesbezirk Sachsen der GdP - Gewerkschaft der Polizei - produziert. Am Bezirkssitz in Kesselsdorf spricht Schriftführer Jan Krumlovsky von zunehmendem Unverständnis und Spott gegenüber der Polizei. Gerade in der Corona-Zeit sei die Respektlosigkeit massiv zum Tragen gekommen. Der Frust über politische Entscheidungen werde an den Beamten ausgelassen. Dass die Polizei die falsche Adresse sei, verstünden manche nicht. Oder sie wollten es nicht verstehen. "Wir sind dann der Prellbock", sagt er, "die Bad Guys."

Der Prellbock muss nicht nur verbale Angriffe aushalten. 2020 wurden in Sachsen rund 1.500 Fälle von Gewalt gegen Polizeibeamte registriert, ein Anstieg um mehr als 13 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. 471 Beamte wurden verletzt. Seit Ende 2021 werden verletzte Beamte speziell bei Corona-Einsätzen erfasst. Im November und Dezember waren das insgesamt 38, im Januar 2022 schon wieder 28.

"Für Recht und Gesetz eintreten." Ein nicht angemeldeter Montagsspaziergang führt am 3. Januar 2022 trotz Polizeiaufgebots durch Pirna.
"Für Recht und Gesetz eintreten." Ein nicht angemeldeter Montagsspaziergang führt am 3. Januar 2022 trotz Polizeiaufgebots durch Pirna. © Daniel Förster

Der Film der Polizeigewerkschaft arbeitet mit dramatischen, düsteren Bildern. Und mit echten Polizisten. Auch Jan Krumlovsky aus der Kesselsdorfer GdP-Geschäftsstelle spielt mit. "Diese Bilder sind unser tägliches Brot", sagt er. Man versuche sein Möglichstes, für den Bürger da zu sein - das sei die Botschaft an die Gesellschaft, die auch für jene gelte, die Wut im Bauch hätten: "Auch wenn du uns gerade nicht leiden kannst - wir sind da, wenn du uns brauchst."

Marcel Müller wollte immer ein "Good Guy" sein. Deshalb ist er Polizist geworden. Aufgewachsen auf einer Klitsche bei Döbeln, stand er als Schuljunge immer am Straßenrand, wenn Polizeisirenen sich näherten. Er stellte sich dann vor, wie auch er einmal Verbrecher fangen würde. Dass es bei der Polizei viel öfter um den Kontakt zum ganz normalen Bürger geht, hat er erst später gemerkt. Und er fand das gut.

Fragt man den Hauptkommissar, wie es um den Respekt bestellt ist, wird er nicht zuerst von den Steinewerfern beim Fußballderby erzählen oder von den Straßenschlachten am Connewitzer Kreuz, nicht vom Molotow-Cocktail, der ihn knapp verfehlte. Er wird nicht auf andere zeigen, sondern zuerst auf die eigene Zunft. Egal wer vor einem Polizisten steht - er hat das Recht, ordentlich behandelt zu werden, sagt er. "Die Kommunikation ist unser effektivstes Werkzeug."

Für Marcel Müller ist klar: Wie die Menschen auf ihre Polizei reagieren, haben die Polizisten vor allem selbst in der Hand. Wenn man sich Zeit nimmt, eine Basis sucht, klappt es mit der Verständigung. Er sagt aber auch, dass Respekt zu haben keine Einbahnstraße sein darf. "Das Gleiche nehmen wir auch für uns in Anspruch."

Doch Kommunikation hilft nicht immer. Das hat Marcel Müller bei den Corona-Protesten erlebt. Die Bereitschaft zu reden sei bei den Teilnehmern oft nicht vorhanden gewesen. Er habe den Eindruck gehabt, dass die Eskalation förmlich erwartet, ja erwünscht gewesen sei. Wenn Demos als Spaziergänge tituliert würden, damit keiner die Verantwortung tragen müsse, fühle man sich als Polizist veräppelt. "Dann ist auch meine Kommunikationsbereitschaft nicht sehr hoch."

Oft genug hat Marcel Müller Mühe gehabt, bei den schnell sich ändernden Corona-Schutzverordnungen die jeweils geltenden Regeln auf dem Schirm zu behalten. Nicht in jeder Regel hat er für sich einen "Mehrwert" erkannt. Als Privatperson kann und soll man darüber diskutieren, sagt er. Als Polizist im Einsatz nicht. Man hat einen Amtseid geleistet. "Es gibt Recht und Gesetz, für das wir einzutreten haben."

Einsatz an der Corona-Front: Polizeibeamte kontrollieren in der Fußgängerzone von Pirna im November 2020 die Maskenpflicht.
Einsatz an der Corona-Front: Polizeibeamte kontrollieren in der Fußgängerzone von Pirna im November 2020 die Maskenpflicht. © Norbert Millauer

Über das Gesetz haben sich die Spaziergänger bei unangemeldeten Spontandemos, auch im Revierbereich Freital, immer wieder hinweggesetzt. Die Polizei ließ sie gewähren, eskortierte die Aufzüge sogar. Sie zu unterbinden sei unmöglich gewesen, sagt Marcel Müller. "Wir können das nicht stemmen mit der Personalsituation, die vorherrscht." Mit einem oder zwei verfügbaren Streifenwagen bleibe nur das Absichern, damit es nicht noch zu Unfällen kommt.

Auch, wenn man manchmal von Lage zu Lage stolpert. Auch, wenn es manchmal schwer ist, durchzuatmen. Auch, wenn sich die Eltern und selbst seine 92-jährige Oma noch immer um ihn sorgen: Marcel Müller hat es nie bedauert, Polizist geworden zu sein. Er mag es, diese "große Wundertüte", wie er seinen Beruf nennt, jeden Tag aufs Neue zu öffnen und immer etwas anderes darin vorzufinden. "Die Polizei ist mein Leben."