Überraschend war das nicht. Da seit vergangenen März mehr oder weniger Corona das alles beherrschende Thema ist, wurde nun ein Begriff aus dessen Sprachfamilie zum Unwort des Jahres gekürt: „Corona-Diktatur“. Das gab die Jury der Sprachkritischen Aktion in Darmstadt bekannt. Gerade in Sachsen dürfte die Wahl nur folgerichtig erscheinen, denn der Freistaat gilt als eine Hochburg der so genannten Querdenker, in deren Reihen sich zahllose Regierungs- und Systemgegner sowie andere Rechtsradikale tummeln. Das Wort „Corona-Diktatur“ wird benutzt, um regierungspolitische Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu diskreditieren.
Die Unwort-Jury erklärt dazu: „Dass der Ausdruck auf Demonstrationen verwendet wird, die – anders als in autoritären Systemen! – ausdrücklich erlaubt sind, stellt schon in sich einen Widerspruch dar.“ Zudem verharmlost der Begriff tatsächliche Diktaturen wie den NS-Staat, aber auch das SED-System. In einer Vorschlags-Einsendung an die Jury wurde darauf hingewiesen, dass „Corona-Diktatur“ oft von denen verwendet wird, die „ja selbst und zum Teil ganz offen auf die Abschaffung der bürgerlichen Freiheiten und der sie repräsentierenden Verfassung zielen“. Der Ausdruck mache es zudem schwieriger, tatsächlich berechtigte Zweifel an einzelnen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie offen und konstruktiv zu diskutieren.
"Rückführung" ist keine gute Tat
Doch muss sich „Corona-Diktatur“ den Unwort-Titel erstmals mit einem anderen Begriff teilen: „Rückführungspatenschaften“. Diese Doppelwahl soll laut Jury erneut verdeutlichen, „dass die Wahl keineswegs als Zensurversuch zu verstehen ist, ... sondern als Anlass zur Diskussion über den öffentlichen Sprachgebrauch und seine Folgen für das gesellschaftliche Zusammenleben.“
Mit „Rückführungspatenschaften“ wurde im September 2020 von der EU-Kommission ein neuer Mechanismus der Migrationspolitik bezeichnet: Die EU-Staaten, die sich weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, sollen ihrer „Solidarität“ mit den anderen Mitgliedern der EU dadurch gerecht werden, dass sie die Verantwortung für die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber übernehmen. Dies als „Rückführungspatenschaften“ zu bezeichnen, hält die Jury für zynisch und beschönigend: „Der ursprünglich christlich geprägte, positive Begriff der Patenschaft steht für Verantwortungsübernahme und Unterstützung im Interesse von Hilfsbedürftigen. In der Zusammensetzung mit dem – ebenfalls beschönigend für „Abschiebung“ gebrauchten – Wort „Rückführung“ wird suggeriert, dass Abschieben eine gute menschliche Tat sei.“
Die Kür des 30. Unworts bringt eine tiefgreifende Veränderung der 1990 gegründeten Sprachkritischen Aktion mit sich: Nach zehn Jahren in unveränderter Besetzung nimmt die komplette Jury ihren Abschied und macht einem neuen Gremium Platz. Die künftigen Entscheidungen über das Unwort fällen die Sprachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler Constanze Spieß (Marburg), Kristin Kuck (Magdeburg), Martin Reisigl (Wien), David Römer (Trier) und die Journalistin Alexandra-Katharina Kütemeyer von der Frankfurter Rundschau.
Die "Unwörter" der vergangenen Jahre
- 2019 - "Klimahysterie": Mit dem Wort werden nach Auffassung der Jury Klimaschutzbemühungen und die Klimaschutzbewegung diffamiert und wichtige Debatten zum Klimaschutz diskreditiert.
- 2018 - "Anti-Abschiebe-Industrie": Der Begriff verhöhnt aus Sicht der Jury geltendes Recht. Er zeige auch, wie sich der politische Diskurs sprachlich und in der Sache nach rechts verschoben habe.
- 2017 - "Alternative Fakten": Mit dem Begriff sollen aus Sicht der Jury Falschbehauptungen politisch salonfähig gemacht werden.
- 2016 - "Volksverräter": Das Wort sei ein "Erbe von Diktaturen" unter anderem der Nationalsozialisten.
- 2015 - "Gutmensch": Der Vorwurf diffamiere Hilfsbereitschaft und Toleranz pauschal als naiv und dumm, begründet die "Unwort"-Jury.
- 2014 - "Lügenpresse": Diese pauschale Verurteilung "verhindert fundierte Medienkritik und leistet somit einen Beitrag zur Gefährdung der für die Demokratie so wichtigen Pressefreiheit", so die Jury.
- 2013 - "Sozialtourismus": Der Ausdruck diskriminiert laut Jury Menschen, "die aus purer Not in Deutschland eine bessere Zukunft suchen, und verschleiert ihr prinzipielles Recht hierzu".
- 2012 - "Opfer-Abo": Die "Unwort"-Jury kritisiert, der Begriff stelle Frauen pauschal unter den Verdacht, sexuelle Gewalt zu erfinden und damit selbst Täterin zu sein. Wetter-Unternehmer Jörg Kachelmann hatte die Wortschöpfung, die seine Frau Miriam erfunden habe, unter anderem in einem "Spiegel"-Interview verwendet. Darin ergänzte er: "Frauen sind immer Opfer, selbst wenn sie Täterinnen wurden."
- 2011 - "Döner-Morde": Dieser Begriff ist für die Mordserie der rechtsextremistischen NSU-Terroristen verwendet worden. Mit der "sachlich unangemessenen, folkloristisch-stereotypen Etikettierung" würden ganze Bevölkerungsgruppen ausgegrenzt, erklärt die Jury.