Es waren verstörende Bilder. Erstmals hat ein Militärflugzeug der Luftwaffe vergangenen Mittwoch Corona-Patienten aus dem überlasteten Freistaat nach Nordrhein-Westfalen ausgeflogen. Damit beim Impfschlusslicht Sachsen nicht das Gesundheitssystem zusammenbricht.
Im vergangenen Jahr gab es ähnliche Bilder. Nur da brachten Luftwaffe und Charter-Flieger noch Patienten von Italien und Frankreich nach Deutschland. Dahinter steckt eine ausgeklügelte Logistik in drei Akten, die die Steuer- und Beitragszahler teuer zu stehen kommt.
Dresden
Die Vorbereitung für den Transfer beginnt zwei Tage vor Abflug. Sachsens Landeskoordinator Sebastian Stehr hat die Lage im Freistaat im Blick. Der Medizinprofessor ist Chef der Intensivstation am Uni-Klinikum Leipzig. Sachsen ist in drei Cluster oder Ballungsräume aufgeteilt: Dresden, Chemnitz Leipzig und die Regionen ringsum.
Sind die Intensivstationen in einem Cluster am Limit, verlegt man in einen der anderen, ist da kein Platz, in die Nachbarbundesländer im Kleeblatt Ost. Aber dort gibt es seit zwei Wochen keine Kapazitäten mehr.
Sachsen muss Patienten auf weiter entfernte Bundesländer verteilen, will es die Lage unter Kontrolle halten. „Es kommen nur ganz wenige infrage“, sagt Stehr. Patienten, die einen schweren Verlauf haben, beatmet werden, nicht zu alt sind. In Ostsachsen beginnt die Suche.
Am Uni-Klinikum Dresden (UKD) sind Peter Spieth und seine Corona-Intensivstation dafür zuständig. Ein Oberarzt checkt Patienten und Befunde. Dazu kommt: „Bei einem Intensivpatienten können schnell zehn bis zwölf verschiedene Medikamente zusammenkommen, die kontinuierlich gegeben werden müssen“, sagt Spieth. Die Angehörigen müssen zustimmen. Das alles kostet Zeit.
„Der individuelle Nutzen für den zu verlegenden Patienten ist überschaubar, weil er bereits ein Intensivbett bei uns hat.“ Zwar herrscht Besuchsverbot, aber es mache für viele einen Unterschied, ob der Patient in der Nähe ist oder hunderte Kilometer entfernt. „Aber der Nutzen für die Gesellschaft ist groß, das muss man den Angehörigen hoch anrechnen.“
Vier UKD-Patienten seien infrage gekommen. Bei einer Frau habe sich der Zustand verschlechtert, bei einem Mann wurde die Zustimmung verweigert. Zwei Patienten sollen mit dem Airbus A310-MedEvac der Luftwaffe nach Köln gebracht werden, aus dem Krankenhaus Dresden-Neustadt zwei, aus Pirna und Meißen je einer.
Andere fahren für Sachsen Operationen herunter
Peter Spieth ist froh, dass es mit dem Bundes-Kleeblatt-Prinzip ein solidarisches Konzept gibt. Es sei nicht so, dass Kliniken, die hiesige Patienten aufnehmen, nichts zu tun hätten. „Die fahren die Zahl anderer Operationen herunter, um unsere Intensivstationen zu entlasten“, sagt Spieth. „Die Kollegen wissen nicht, ob die vierte Welle vielleicht nicht auch noch zu ihnen herüberschwappt.“
In einer weniger solidarischen Welt, so Spieth, hieße es vielleicht: „Wenn die Sachsen sich nicht impfen lassen, können die sehen, wie sie klarkommen.“ Prävention sei immer besser. „Gerade, wenn es mit der Impfung eine so einfache Prävention gegen eine potenziell tödliche Erkrankung und schwere Krankheitsverläufe gibt.“
Stehen die Patienten für den Transport fest und stimmt die Familie zu, prüft eine Fachgruppe am Robert-Koch Institut im Sechs-Augen-Prinzip, ob ein Lufttransport infrage kommt. Dann muss ein Zielkrankenhaus gefunden, Gespräche mit den Ärzten dort geführt werden.
Die Rettungsleitstelle Dresden organisiert den Transport mit der Luftwaffe, danach stimmen sich UKD-Ärzte mit Kollegen von der Bundeswehr ab. Einige Stunden kommen so zusammen.
Am Tag der Verlegung wird der Patient ein letztes Mal auf Flugtauglichkeit gecheckt. Eine Behandlungs-Dokumentation mit allen Befunden und ein Arztbrief für das aufnehmende Krankenhaus werden erstellt. Zeitaufwand: drei Stunden. Noch einmal 30 Minuten dauert es, den Patienten für den Intensiv-Transport vorzubereiten.
Der komplette Behandlungsplatz muss mit. Mindestens vier Pflegerinnen und ein Arzt lagern den Patienten vom Krankenbett auf die Transportliege um, Kabel und Schläuche werden abgeklemmt und an akkubetriebene Beatmungs- und Überwachungsgeräte und mobile Spritzen und Sauerstoffflaschen angeschlossen. „Dabei dürfen keine Fehler passieren“, sagt Peter Spieht.
9.000 Euro bis zur Flugzeugtür
Kreislaufunterstützende Medikamente müssten durchgängig gegeben werden, künstliche Ernährung nicht. Alles ist so berechnet, dass es bis zum Flugzeug reicht. 30 Minuten braucht der Intensiv-Transportwagen bis zum Flughafen. Statt dem Notarzt fährt ein Stationsmediziner mit, das spart eine fachliche Übergabe des Patienten.
Sechs Mal muss die Prozedur in vier Krankenhäusern gleichzeitig gelingen, allein das ist ein Kunststück, denn die Krankenwagen sollen gleichzeitig ankommen.
Die Kosten für Auswahl, Vorbereitung, Ärzte, Pfleger und Sanitäter plus Intensiv-Krankenwagen-Transport summieren sich pro Patient auf mindestens 1.500 Euro. Für alle sechs, die an Bord gehen sollen sind das 9.000 Euro – nur bis zur Flugzeugtür.
Die fliegende Intensivstation
Am Morgen des 1. Dezember hebt der Luftwaffen-Airbus A310-MedEvac am Flughafen Köln/Bonn ab und landet gegen zehn Uhr in Dresden. Eigentlich ist die Maschine Teil der militärischen Rettungskette, in der sichergestellt werden muss, dass die Luftwaffe jederzeit Verwundete aus Auslandseinsätzen wie in Mali oder dem Libanon zurückholen kann.
Ein ähnlicher Airbus A310 der Luftwaffe MedEvac war zuletzt Teil der militärischen Evakuierungsmission der Bundeswehr in Afghanistan und flog die Strecke Deutschland Usbekistan. Als Zubringer aus Kabul fungierte ein gepanzerter Airbus A400M mit Bordbewaffnung.
Im Februar 2020 holte ein A310 in der Passagier-Version etwa 100 deutsche Staatsbürger und 24 Angehörige anderer EU-Staaten nach dem Ausbruch des Corona-Virus in Wuhan (China) ab, die anschließend zur Quarantäne in einer Ausbildungs-Kaserne der Luftwaffe im pfälzischen Germersheim untergebracht wurden.
2019 holte ein A310 MedEvac viele verletzte Deutsche nach einem Busunglück auf Madeira ab, im März 2020 brachte er Covid-19 Patienten aus Bergamo/Italien zur Behandlung nach Deutschland.
Beim Dresden-Köln-Flug sind der Flugzeug-Kommandant, der Co-Pilot und drei Flugtransportbegleiter an Bord, die sich – wie bei einem normalen Linienflug – schon vor dem Flug etwa zwei Stunden darauf vorbereiten. Noch vor ihnen hat das Bodenpersonal das Flugzeug technisch überprüft, betankt und mit Medikamenten und Verbrauchsmaterial bestückt. Zeitbedarf: bis zu sechs Stunden.
Ein spezialisierter Fliegerarzt ist mit an Bord gegangen. Der medizinische Dienst der Bundeswehr ist mit 19 Personen an der Mission beteiligt, darunter drei Anästhesie-Teams mit je einem Facharzt und drei Pflegekräften für Anästhesie und Intensivmedizin, außerdem sechs Notfallsanitäter und eine weitere Ärztin.
Das medizinische Personal ist aus den Bundeswehrkrankenhäusern in Koblenz und Ulm, die Sanitäter aus ganz Deutschland zum Kölner Flughafen angereist. Je nach Reisedauer stehen für die Soldaten Fahrer bereit oder es werden Übernachtungen vor oder nach dem Flug bezahlt.
Jede Flugstunde kostet 26.000 Euro
Die Gehälter für die Mediziner und das fliegerische Personal an Bord summieren sich bei dem Einsatz auf geschätzt 7.000 Euro. Mit Anreise dürfte jedes Besatzungsmitglied gut zwölf Stunden mit dem Flug zu tun haben.
Die Flugstunde eines A310 ohne Personalkosten wird von der Bundeswehr mit rund 26.000 Euro kalkuliert. Für Hin- und Rückflug sind das 52.000 Euro. Start- und Landegebühren werden im Nachgang von der Bundeswehr bezahlt. Im Schnitt sind das für Start und Landung jeweils mehrere hundert Euro. Mindestens 60.000 Euro werden rund um den Flug am Ende zusammenkommen. Die Kosten trägt der Bund und damit die Steuerzahler.
Sechs Intensiv-Krankenwagen fahren auf dem Dresdner Flughafen ab kurz vor halb zwölf im Takt an den A310 heran. Die Besatzung ist vorbereitet, hat auf der linken Rumpfseite schon das Frachttor geöffnet.
Sechs Intensivbetten stehen im Innern des Flugzeugs zur Verfügung. Patientenmonitore, Bronchoskope, Infusionspumpen, EKG- Geräte, Defibrillatoren, und ein Blutgasanalysegerät gehören unter anderem zur Ausrüstung. Sauerstoff und Druckluft reichen für etwa zwölf Stunden aus.
Noch einmal die gleiche Menge an Druckgasflaschen fliegt im Frachtraum mit. Das ermöglicht eine maximale medizinische Versorgungszeit an Bord von 24 Stunden. „Fliegende Intensivstation“ wird die MedEvac der Bundeswehr wegen ihrer Ausstattung genannt.
In weißen Ganzkörperanzügen, die vor einer Ansteckung schützen sollen, hieven Rettungswagenbesatzung und die Flugzeugbesatzung die Patiententragen auf die Ladeplattform. Schläuche und Kabel sind zu sehen. Vier Sanitäter sichern, während die Plattform nach oben gleitet. Dort warten Kollegen, um sie in Empfang zu nehmen.
Ein kurzes Übergabegespräch von Zivilarzt zu Bundeswehrarzt auf der Plattform, dann werden die Patienten ins Innere geschoben, bevor die Prozedur unten von vorn beginnt. Eineinhalb Stunden nach Beginn der Verladung schließt sich das Frachttor. Um 13.20 Uhr rollt die Maschine auf die Startbahn und hebt Richtung Westen ab.
Während des Rückflugs nach Köln sprechen sich die Piloten mit den Ärzten ab, ob etwa eine gewisse Druckhöhe nicht überschritten werden darf oder ob der Sinkflug besonders langsam sein muss. Lufttransport bedeutet immer eine Belastung für Schwerkranke.
Knapp eine Stunde später landet das Flugzeug wieder in Köln. Das Personal unterzieht sich einer Desinfizierung und bereitet den Flug eine halbe Stunde nach. Insgesamt ist die Besatzung an diesem Tag ohne Anreisezeit acht Stunden im Einsatz.
Im Vergleich zu Flügen nach Afghanistan oder Westafrika sei das ein eher kurzer Einsatz, so ein Luftwaffensprecher. Nachdem alle Patienten weg sind, muss das Flugzeug durchlüftet und desinfiziert werden. Zwölf Stunden dauert das. Erst dann ist die „fliegende Intensivstation“ der Luftwaffe wieder einsatzfähig.
Köln
Als der Airbus A310 in den Landeanflug übergeht, laufen in einem Hangar auf dem militärischen Teil des Flughafens Köln/Bonn letzte Vorbereitungen für die Übergabe der Patienten an die Rettungsdienste der aufnehmenden Städte. Intensivtransportwagen und Rettungswagen aus Köln, Bonn, Marl und Bochum stehen bereit.
Nachdem die Maschine in den Hangar gerollt ist, begutachten Notärzte und Sanitäter die sechs Patienten auf ihren Zustand nach dem Flug, der vor allem für Schwerstkranke eine Belastung ist. Die Bundeswehrärzte übergeben die Patienten zurück in zivile Hände. Das Personal trägt Infektionsschutzanzüge, FFP2-Masken, Überzieher über die Schuhe, Schutzbrillen und Handschuhe.
Die Patienten werden in die Wagen gebracht, die sich auf den teils mehr als 100 Kilometer langen Weg in die Zielkrankenhäuser machen. Einer der beiden UKD-Patienten bleibt in Köln, der andere wird nach Bochum gebracht.
Die Intensivstationen erwarten die Ankömmlinge. Alles ist vorbereitet, dank der aufwendigen Koordination im Vorfeld. In Köln etwa sitzt ein Team aus sogenannten „Bettenkoordinatoren“ in der Leitstelle der Feuerwehr und hat permanent die Verfügbarkeiten in der Stadt und Region im Blick.
Welche Klinik noch jemanden aufnehmen kann, entscheidet sich dann mindestens einen Tag im Voraus. „Wenn ein Patient im Rahmen der Kleeblattverlegung zu uns kommt, wissen wir das in der Regel 24 bis 36 Stunden vorher“, sagt Horst Kierdorf, Medizinprofessor und Direktor der städtischen Kliniken in Köln. „Die Situation, dass der Rettungsdienst bei uns anruft und sagt ‚wir stehen bei Ihnen vor der Tür‘ gibt es also nicht. Die Verlegung verläuft also ohne großen Zeitstress.“
Anders als etwa in der dritten Welle seien die städtischen Kliniken hier derzeit in der Lage, Notfälle und Schwerkranke aus anderen Bundesländern aufzunehmen, ohne Patienten verlegen oder Personal an anderer Stelle abzuziehen. „Noch findet sich immer ein Bett.“
Ein Großteil der Patienten soll ungeimpft sein
In der Klinik läuft jetzt eine Art Standardverfahren ab. „Wenn ein Krankenhaus einen Patienten aufnimmt, ist für diesen bereits ein Zimmer vorbereitet“, sagt Kierdorf. „Bei uns sind immer mindestens zwei Ärzte und drei oder vier Pflegekräfte in die Übernahme eingebunden. Es gibt dann ein Übergabeprotokoll, in dem die Medikation und Therapieformen vermerkt sind. Unter Umständen müssen dann zum Beispiel Infusionen neu angerührt werden“, sagt Kierdorf weiter.
Bis die Behandlung des Patienten auf das jeweilige Krankenhaussystem eingestellt sei, könne es bis zu 30 Minuten dauern. „Dass das so schnell geht, liegt daran, dass unser Pflegepersonal sehr gut dafür geschult wird.“ Auch für die halbe Stunde aber wird Personal gebraucht, das bezahlt werden muss.
Für Notärzte und Sanitäter geht es zurück in die Wachen. Jeder Rettungswagen wird zwei Stunden lang desinfiziert. Einsprühen, abwischen: jede Oberfläche, alle Geräte, auch die kleinste Ecke. All das dauert – weit über den eigentlichen Einsatz hinaus.
Corona-Transporte gehören demnach zu den aufwendigsten überhaupt, dauern manchmal einen ganzen Arbeitstag für die Rettungswagen- Besatzung, auch wenn sich längst Routine eingestellt hat. Ähnlich wie in Dresden kommen allein für die Intensiv-Transporte vom Flughafen in die Kliniken gut 9.000 Euro Kosten zusammen.
Alles in allem sind das mindestens 78.000 Euro und einige Arbeitswochen für ein paar Stunden Transport von sechs Patienten, von denen der überwiegende Teil nach Informationen von Sächsische.de ungeimpft sein soll.
*Alexander Holecek ist Reporter des Kölner Stadt-Anzeigers