So werden Corona-Infektionen viel früher entdeckt

Von Sven Lemkemeyer
Zeit ist im Wettlauf mit dem Coronavirus ein enorm wichtiger Faktor geworden. Ausbrüche regional früher erkennen und gegensteuern zu können, als dies bisher aufgrund von Infektionszahlen und Inzidenzen des Robert Koch-Instituts (RKI) geschieht, wäre sehr wichtig, darin sind sich alle Experten einig. Die Politik könnte so schneller und gezielter handeln – auch mit Blick auf die gefürchteten Virusvarianten. Und eine Lösung könnte buchstäblich unter uns fließen: das Abwasser.
In anderen Ländern wird die Abwasseranalytik in der Pandemie längst eingesetzt. Auch in Deutschland arbeiten nun mehrere Forschungseinrichtungen an diesem Thema, wie die TU Darmstadt. Dort hat ein Team um Professorin Susanne Lackner vom Fachbereich Bau- und Umweltingenieurwissenschaften Ende Januar ein Projekt abgeschlossen. Sie untersuchten Abwasserproben aus Frankfurt am Main, einem Einzugsraum von rund 1,28 Millionen Menschen.
Zuverlässige Ergebnisse schon ab einer Inzidenz von 5
„Wir haben mit dem Projekt in Frankfurt im Nachhinein zeigen können, dass wir die Sars-CoV-2-Ausbrüche nachweisen können“, sagt Abwasserexpertin Lackner im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Der Vorteil des Verfahrens: Es dauere rund einen Tag bis man das Ergebnis aus einer Abwasserprobe vorliegen habe. „Wenn ich unsere Kurve mit den Konzentrationen an Viren im Abwasser den Inzidenzwerten des RKI gegenüberstelle, dann sehe ich den Anstieg fünf bis zehn Tage vorher“, erläutert Lackner.
Bei der Filtration im Labor bleiben auch die Coronaviren hängen und die Probe kann so aufkonzentriert werden. Die Geninformation des Virus lässt sich mit bereits vorhandener Technik herauslösen und analysieren. So wird die Viruslast, die Menge der Viren, bestimmt. Und dabei lassen sich schon sehr kleine Menge nachweisen, erklärt Lackner: „Schon ab einer Inzidenz von 5 haben wir für Frankfurt zuverlässige Ergebnisse bekommen.“
Die genaue Zahl der Infizierten in einer untersuchten Region lässt sich so zwar nicht bestimmen, auch wenn es Kollegen gebe, die inzwischen auch solche Modellrechnungen wagten, sagt Lackner. Die Frage sei nun, wie man es schaffe, das Infektionsgeschehen quasi in Echtzeit zu verfolgen, „so dass die Daten wirklich als Frühwarnsystem genutzt werden können“.
Wie viele andere Wissenschaftler geht Lackner davon aus, dass die Pandemie Deutschland noch ein, zwei Jahre beschäftigen werde. „Wenn es blöd läuft, auch deutlich länger“, sagt die Abwasserexpertin. Und: „Wir können nicht jede Woche Millionen Menschen testen in den nächsten Jahren, das ist nicht zu finanzieren. Da bietet Abwasser eine Poollösung. Man kann größere Einzugsgebiete begleiten, um frühzeitig punktuelle Ausbrüche zu erkennen. Und dort könnte man wieder gezielt klinisch testen.“ Bei einem niedrigeren Infektionsgeschehen müssten die Beprobung vermutlich auch gar nicht so engmaschig erfolgen, sagt Lackner. „Da reicht es dann vielleicht auch jeden zweiten, dritten Tag, um lokale Hotspots zu erkennen.“
Eine Probe kostet bis zu 150 Euro
Dass sei besonders auch mit Blick auf Mutationen ein wichtiger Faktor, die aktuell vielen große Sorgen bereiten. „Auch die können wir sequenzieren“, sagt Lackner. In diesem Punkt sieht sie in der Coronavirus-Pandemie eine große Chance der Abwasseranalytik. Denn dabei komme es nicht zwingend darauf an, die Daten tagesaktuell vorliegen zu haben. „Man hat dann eventuell wöchentlich einen Überblick und kann die Gesundheitsämter warnen, wo beispielsweise die britische Virusvariante bereits auftaucht.“ Nach den Erfahrungen aus Frankfurt sei sie sehr optimistisch, dass das Verfahren eine gute Informationsquelle sei.
Die genauen Kosten lassen sich Lackner zufolge nur schwer beziffern. „Eine Probe, wie wir sie jetzt nehmen, kostet zwischen 100 und 150 Euro.“ Aber man müsse stufenweise denken und vorgehen. „Es würde an den Kläranlagenzuläufen geprobt und wenn sich dort ein relevante Viruslast nachweisen lässt, würde man im Kanal zurückgehen, um mit weiteren Proben das Infektionsgeschehen genauer zu lokalisieren“, erklärt Lackner. In kleinen Einzugsgebieten mit nur einer Kläranlage sei es natürlich einfacher, so die Wissenschaftlerin. „Da weiß man direkt, es handelt sich um diese Gemeinde.“
An der Analytik würde der Einsatz des Verfahrens nicht scheitern, glaubt Lackner, sofern die finanziellen Mittel da wären. „Der Knackpunt wäre eher die Logistik und der Transfer der Daten in das Managementsystem der Gesundheitsbehörden oder zum RKI, um die Erkenntnisse sinnvoll einzusetzen.“ Allerdings habe sie auch in dieser Frage aktuell Signale bekommen, dass es relativ problemlos wäre, Abwasserdaten einzuweben.
"Die Abwasseranalytik ist unterbewertet in Deutschland"
Die Niederlande seien bei der Abwasseranalyse seit Jahrzehnten auch bei anderen Viren deutlich weiter. „Dort fließen auch jetzt die Daten zum Coronavirus aus den Kläranlagen als ein Parameter ein, um das Infektionsgeschehen zu beurteilen.“ In Österreich werde das Verfahren ebenfalls erfolgreich eingesetzt. Und auch die Schweiz habe schon gezeigt, wie man die Daten mit den Inzidenzen gegenschneiden und daraus Prognosen entwickeln könne. „Bei uns sehen die Behörden meinem Eindruck nach leider bisher die Relevanz des Themas nicht. Deutschland ist sehr in seinen Strukturen gefangen“, sagt Lackner.
Und in der Tat, das Bundesgesundheitsministerium hält sich auf eine Anfrage des Tagesspiegel zu den Chancen und Möglichkeiten sehr bedeckt. Man könne das nicht kommentieren, heißt es lediglich. Das RKI wiederum verweist auf das Umweltbundesamt (UBA). Dort sagt der Laborleiter Virologie, Hans-Christoph Selinka: „Das ist sicher ein Instrument mit großem Potenzial.“ Besonders der Punkt, dass auch asymptomatische Erkrankungen erfasst würden, sei gerade bei Sars-CoV-2 bedeutsam. „Da besteht tatsächlich ein zeitlicher Vorteil zu den klinischen Tests.“
Auf die Frage, wann Daten aus molekularbiologischen Abwasseruntersuchungen auch in Deutschland in die Beurteilung des Infektionsgeschehens einbezogen werden könnten, sagt der Virologe: „Es gibt in Deutschland noch keine Standardisierung und die Auswertung der Daten ist sehr komplex.“
Aber es gebe dazu bis Ende des Jahres Termine, mit dem Ziel, dass die verschiedenen Forschungseinrichtungen ihre Verfahren abstimmen. „Und wenn die Kommunen an dieser Diagnostik interessiert sind, könnte das Verfahren sicher relativ schnell ergänzend zu den klinischen Tests zum Einsatz kommen“, sagt Selinka.
Auch der SPD-Gesundheitsexperte und Epidemiologe Karl Lauterbach spricht sich dafür aus, Abwasseranalytik flächendeckend einzusetzen. „Ich kenne die Studie und das Verfahren der TU Darmstadt sehr gut. Es ist ein sehr effizientes Frühwarnsystem für die Landkreise, weil es sehr sensitiv ist. Veränderungen werden sehr gut und schnell erfasst, insbesondere mit Blick auf die Mutationen“, sagt er dem Tagesspiegel.
Wichtig sei, dass das System in Deutschland standardisiert werde. Die Zurückhaltung des RKI könne er nicht verstehen. „Die Technik ist zuverlässig. Es ist eine sinnvolle Ergänzung zu den klinischen Tests. Die Abwasseranalytik ist klar unterbewertet in Deutschland.“ Auch in Paris und US-Metropolen wie New York werde dies bereits seit längerem erfolgreich eingesetzt.
Für Susanne Lackner ist das Potenzial der Abwasseranalytik mit dem Coronavirus längst nicht ausgeschöpft: „Es wird sicher immer wieder neue Erreger geben, bei denen sich das Verfahren als Frühwarnsystem eignet.“ Zudem könne es sicher auch eingesetzt werden, um ganz normale Influenza- oder Noroviren zu entdecken. „Und auch für die Frage von Antibiotikaresistenzen, die ja immer wichtiger wird, ist das ein Riesenthema.“